Inhalt:
Gründe gegen das Mehrheitswahlrecht
das Pluralwahlrecht
warum Verhältniswahlrecht
Reform des Herrenhauses

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- Emil Karl HARTWIG -


Aus "Evangelisch-soziale Stimmen" vom 30. Januar 1918 (14. Jahrg., Nr. 1) S. 4:

Die preußische Wahlreform.
Es handelt sich bei der politischen Rechtsveränderung in Preußen nicht nur um eine gerechte Ausgleichung der fraglichen Rechte, sondern um eine völlige Umgestaltung der Volksvertretungskörper. Die die Volksvertretung umgestaltende Wirkung des gleichen Wahlrechtes findet erbitterte Gegnerschaft, weil die Umgestaltung in starkem Maße auf Kosten der besitzenden und freien Berufe zugunsten der Arbeiter und Minderbemittelten vor sich geht. Wir stellen uns bezüglich des Wahlrechts zum Abgeordnetenhause auf den Boden der Regierungsvorlage, d. h. wir fordern das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Wahlrecht zum Abgeordnetenhaus aber mit der Ergänzung, daß für die ganze Monarchie die Verhältniswahl eingeführt wird.

Die Gründe gegen das absolute Mehrheitswahlrecht liegen in den Erfahrungen seit Gelten des Reichstagswahlrecht. Eine kleine Zufallsmehrheit entrechtet eine große Minderheit, durch Kuhhandel und Kompromisselei wird die wirkliche Mehrheit des Wahlbezirks erdrosselt. Ein wichtiger Grund ist die Tatsache, das das nackte Majoritätswahlrecht eine Agitation groß zieht, die viele ernst sittliche und volksfreundliche Kräfte veranlaßt, der Politik zu entsagen. Trotz dieser Mängel ist das gleiche Wahlrecht das gerechteste, sofern die Verhältniswahl den Ausgleich für die Minderheiten schafft.

Das Pluralwahlrecht, ob Besitz oder Bildung, gibt im ersten Falle der Person des Ausübenden oft durch Zufall (Kriegsgewinn, Erbe) oder Mitwirkung von Mitbürgern, die den Besitz schaffen helfen (Fabrikant u. a.) ein Recht, das ihm nur zu einem Bruchteil gebührt. Ähnlich liegt die Sache beim Bildungsplural. Bei der Wahl, ob Besitz- oder Bildungsplural liegt in der schwierigen Feststellung des Bildungsgrades. Man ist gezwungen, sich an Zeugnisse, Amt oder Titel zu halten. Der Alters- und Familienplural, der viel Berechtigung besitzt, findet bei den Gegnern des gleichen Wahlrechts keine Gegenliebe, da er die Rechte der Minderbemittelten stärkt.

Einen für alle Teile gerechten Ausgleich schafft die Verhältniswahl. Sie entwaffnet die Brutalität des absoluten Mehrheitswahlrechts, veredelt den Wahlkampf und die Wahlsitten. Sie zieht wertvolle Kräfte der Bildung und der Mittelschichten ins politische Leben und zu fördersamer Arbeit im Staate, sie gibt den kulturellen, religiösen und wirtschaftlichen Vereinigungen die Möglichkeit, ihre Ideale und Ziele in die Waagschale der Staatswohlfahrt zu werfen. - Verfehlt ist das Bestreben, die Verhältniswahl nur für die großen Industriezentren zu fordern. Grundsätzlich ist im Interesse der lohnarbeitenden Landbevölkerung an der Einführung der Verhältniswahl auch fürs platte Land festzuhalten. Sie bildet für den Landarbeiter eine wertvolle Waffe für sein wirtschaftliches, kommunales und staatliches Ansehen.
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Im einzelnen ist zu fordern: Das aktive und passive Wahlrecht steht jeder männlichen Person zu, die 24 Jahre alt ist. Die Ausübung des Wahlrechts ist nach mindestens sechsmonatlichem Wohnsitz im Wahlkreis zuzubilligen. - Für die Änderung wichtiger Kultur- und Verfassungsfragen, die gesetzlich festzulegen sind, ist eine 3/4 Mehrheit des Abgeordnetenhauses notwendig. - Auf hunderttausend, höchstens hundertfünfzigtausend Wähler entfällt ein Abgeordneter.

Die Regierungsvorlage zur Reform des Herrenhauses (besser "Stände"kammer) ist ein guter Schritt vorwärts. Daß das Recht der Krone sowohl hinsichtlich der Vorbehaltung der Ernennung eines bestimmten Teiles der Mitgliederzahl wie auch das Präsentationsrecht gewahrt wurde, muß begrüßt werden. Zu der Anzahl der von den Ständen in die Ständekammer zu entsendenden Vertreter Stellung zu nehmen, ist noch verfrüht. Die Regierungsvorlage wird dem ständischen Charakter, den die Kammer haben müßte, nicht gerecht. Sie muß stärker den einzelnen Berufsgruppen Rechnung tragen, insonderheit der gewaltigen Bedeutung, die der Arbeiter- und Angestelltenschaft sowohl in volkswirtschaftlicher wie allgemein völkischer Hinsicht zukommt. Eine dem Staatsganzen dienliche Reform kommt nicht zustande, ohne daß diesem Stande eine angemessene Vertretung zugebilligt wird. Voraussetzung dafür ist eine staatsrechtliche Einrichtung, die den Beamten-, Arbeiter- und Angestelltenstand die Möglichkeit gibt, ihre Vertreter für die Ständekammer zu präsentieren, die Berufs-(Arbeits-)kammer. Das Arbeitskammergesetz ist daher die dringendste Forderung.

E. Hartwig, Arbeitersekretär, Bielefeld.


(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Erstellt am 31.12.97 - Letzte Änderung am 31.1.1998.
Winfried Hartwig
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