(Aus "Evangelisch-soziale Stimmen" 1918, Nr. 9, S. 36)
Die Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen darf als feststehend angesehen werden. Wir freuen uns dessen; aber diese Freude ist nicht vollkommen. Unsere Forderung lautete: Das Reichstagswahlrecht unter Zugrundelegung des Proporzes. Das war - trotzdem die Sozialdemokraten es gleichfalls verlangten und Freunde desselben in allen Parteien sind - nicht zu erzielen. Darum nehmen wir das Erreichbare und - jetzt muß der Kampf für die Einführung der Verhältniswahl verstärkt beginnen. Alle evangelischen insbesondere sozialen Vereinigungen, erwerben sich ein Verdienst um die Zukunft von Volk und Land, wenn sie der Frage die stärkste Anteilnahme zuwenden. Sie verbürgt allein und erst recht im Zeichen parlamentarischer Regierungssysteme den erreichbaren Grad gerechter politischer Berücksichtigung aller ständischen, kulturellen und wirtschaftlichen Gruppen.
Der Grundsatz der Verhältniswahl ist klar: Nach Bildung größerer Wahlbezirke entscheidet nicht die absolute Mehrheit, sondern jede Gruppe, die sich im Wahlkampf bewirbt, wird nach der Höhe der auf sie entfallenden Stimmen bei der Verteilung der Mandate berücksichtigt. Sie beseitigt den Übelstand, daß Minderheiten, die im Staat, in der Provinz, in der Gemeinde eine verhältnismäßige Gesamtstärke ausmachen, nicht berücksichtigt werden.
zum Seitenanfang 670 000 : 400 000 = 100 : X 670 000 : 200 000 = 100 : X 670 000 : 44 000 = 100 : X 670 000 : 26 000 = 100 : X und die auf die einzelnen Listen kommenden Verhältniszahlen sind: A 59,7, B 29,8, C 6,6, D 3,8. Demnach erhalten zunächst A 59, B 29, C 6, D 3 Abgeordnete und von den drei noch übrigen diejenigen Listen je einen, die in den Dezimalstellen am höchsten stehen, also A, B und D, so daß das definitive Resultat A 60, B 30, C 6 und D 4 ist. Legen wir nun das Ergebnis der Reichstagswahl von 1912 einem Beispiel für die Listenwahl zugrunde. Damals wurden bei den ersten ordentlichen Wahlen im ganzen in vollen Tausenden abgegeben 12 207,6 Stimmen. Davon entfielen auf Deutsch-Konservative 1126,3, Reichspartei 367,2, Nationalliberale 1662,7, Zentrum 1996,8, Fortschrittliche Volkspartei 1497,0, Polen 441,7, Sozialdemokraten 4250,4, Welfen 84,6, Dänen 17,3, Elsaß-Lothringen 162,0, Wilde 601,6. zum Seitenanfang
Die auf die einzelnen Parteien entfallenden Verhältniszahlen würden dann sein: Konservative 36,66, Reichspartei 11,9, Nationalliberale 54,0, Zentrum 66,5, Fortschrittliche Volkspartei 48,68, Polen 14,4, Sozialdemokraten 138,2, Welfen 2,7, Dänen 0,64, Elsaß-Lothringer 4,7, Wilde 19,5, und es wären unter Zuteilung je eines der 5 auf die Dezimalstellen entfallenden Abgeordneten an die darin am höchsten stehenden Parteien gewählt: Konservative 37 gegen 43 i.J.1912 tatsächlich gewählte Reichspartei 12 gegen 14 i.J.1912 tatsächlich gewählte Nationalliberale 54 gegen 45 i.J.1912 tatsächlich gewählte Zentrum 66 gegen 91 i.J.1912 tatsächlich gewählte Fortschr.Volksp. 49 gegen 42 i.J.1912 tatsächlich gewählte Polen 14 gegen 18 i.J.1912 tatsächlich gewählte Sozialdemokraten 138 gegen 110 i.J.1912 tatsächlich gewählte Welfen 3 gegen 5 i.J.1912 tatsächlich gewählte Dänen 0 gegen 1 i.J.1912 tatsächlich gewählte Elsaß-Lothringer 5 gegen 9 i.J.1912 tatsächlich gewählte Wilde 19 gegen 19 i.J.1912 tatsächlich gewählte zum Seitenanfang Schroffe Gegner der Verhältniswahl sind bezeichnenderweise durchweg die Berechtigten der ersten Wählerklasse der bisherigen Wahlsysteme sowohl in den Staats- wie Kommunalparlamenten. Wie die Verhältniswahl in einer großen Kommune wirken würde, schildert Dr. Bodmann in Nr. 10 der Düsseldorfer Lokalzeitung vom 9. 3. 1918. "Nach der Abstimmung bei der Hauptwahl von 1912 würden 36 Stadtverordnetensitzen entfallen auf die 38 000 Stimmen der Roten 16 Sitze, auf die 33 000 Stimmen der Schwarzen 13 Sitze, auf die 12 000 Stimmen der Blauen 5 Sitze, und die zwei letzten auf die 5 000 Stimmen der übrigen Parteien, wenn sie ihre Listen zu verbunden erklärten." Nach der Verhältniswahl werden nach der Wahlgesetznovelle künftig im Reiche in 23 Wahlkreisen 80 Abgeordnete gewählt. Für eine Anzahl großindustrielle und gemischt-sprachliche Wahlbezirke wird das nach dem neuen Wahlgesetz auch in Preußen der Fall sein. Die Verhältniswahlsysteme werden und brauchen nicht bei beiden Parlamenten gleich zu sein. Ganz gleich aber, wie sie beschaffen sein werden, sie sind Meilensteine für die Einführung der Verhältniswahl für alle durch Wahlen zusammengesetzten öffentlichen Körperschaften. |
Arbeitersekretär Emil Hartwig, Bielefeld.
(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)