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Grundsätzliches zur Verhältniswahl
Beispiel
Praktischer Vergleich

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- Emil Karl HARTWIG -


(Aus "Evangelisch-soziale Stimmen" 1918, Nr. 9, S. 36)

Die Forderung der Verhältniswahl.
Die Einführung des Reichstagswahlrechts in Preußen darf als feststehend angesehen werden. Wir freuen uns dessen; aber diese Freude ist nicht vollkommen. Unsere Forderung lautete: Das Reichstagswahlrecht unter Zugrundelegung des Proporzes. Das war - trotzdem die Sozialdemokraten es gleichfalls verlangten und Freunde desselben in allen Parteien sind - nicht zu erzielen. Darum nehmen wir das Erreichbare und - jetzt muß der Kampf für die Einführung der Verhältniswahl verstärkt beginnen. Alle evangelischen insbesondere sozialen Vereinigungen, erwerben sich ein Verdienst um die Zukunft von Volk und Land, wenn sie der Frage die stärkste Anteilnahme zuwenden. Sie verbürgt allein und erst recht im Zeichen parlamentarischer Regierungssysteme den erreichbaren Grad gerechter politischer Berücksichtigung aller ständischen, kulturellen und wirtschaftlichen Gruppen.

Der Grundsatz der Verhältniswahl ist klar: Nach Bildung größerer Wahlbezirke entscheidet nicht die absolute Mehrheit, sondern jede Gruppe, die sich im Wahlkampf bewirbt, wird nach der Höhe der auf sie entfallenden Stimmen bei der Verteilung der Mandate berücksichtigt. Sie beseitigt den Übelstand, daß Minderheiten, die im Staat, in der Provinz, in der Gemeinde eine verhältnismäßige Gesamtstärke ausmachen, nicht berücksichtigt werden.

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Der technische Vorgang ist nicht einfach. Die sich bei der Wahl um die Mandate bewerbenden Parteien und Gruppen - es können sich auch wirtschaftliche, kulturelle usw. Gruppen beteiligen - reichen der Behörde die Liste der von ihnen in Vorschlag gebrachten Kandidaten ein. Eine Mindestzahl von Unterzeichnern jedes Wahlvorschlages wird gefordert. 20 - 100. Natürlich können Kompromis- bezw. Verbindungslisten zwischen Parteien und Gruppen zugelassen werden. Nach ordnungsmäßiger Prüfung erfolgt die Veröffentlichung aller eingegangenen Wahlvorschläge nach der Reihenfolge des Eingangs, wobei jede Liste eine amtliche Bezeichnung A. B. C. ... erhält. Die Kölnische Zeitung Nr. 507 gibt folgendes Beispiel des sich dann vollziehenden Wahlvorganges: "Von den alten Parteien bezw. Von Personengruppen mit der erforderlichen Mindestzahl von Unterschriften sind vier Listen eingegangen, nämlich die Listen A, B, C und D. Bei der Wahl werden abgegeben 670 000 gültige Stimmen, von denen auf Liste A 400 000, B 200 000, C 44 000, D 26 000 entfallen Dann verhalten sich:

670 000 : 400 000 = 100 : X
670 000 : 200 000 = 100 : X
670 000 :  44 000 = 100 : X
670 000 :  26 000 = 100 : X

und die auf die einzelnen Listen kommenden Verhältniszahlen sind: A 59,7, B 29,8, C 6,6, D 3,8. Demnach erhalten zunächst A 59, B 29, C 6, D 3 Abgeordnete und von den drei noch übrigen diejenigen Listen je einen, die in den Dezimalstellen am höchsten stehen, also A, B und D, so daß das definitive Resultat A 60, B 30, C 6 und D 4 ist.

Legen wir nun das Ergebnis der Reichstagswahl von 1912 einem Beispiel für die Listenwahl zugrunde. Damals wurden bei den ersten ordentlichen Wahlen im ganzen in vollen Tausenden abgegeben 12 207,6 Stimmen. Davon entfielen auf Deutsch-Konservative 1126,3, Reichspartei 367,2, Nationalliberale 1662,7, Zentrum 1996,8, Fortschrittliche Volkspartei 1497,0, Polen 441,7, Sozialdemokraten 4250,4, Welfen 84,6, Dänen 17,3, Elsaß-Lothringen 162,0, Wilde 601,6.

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Angenommen, die sämtlichen auf Wilde entfallenen Stimmen seien auf die einzige neben den Wahllisten der aller Parteien mit genügender Mindestzahl von Unterschriften eingegangene Wahlliste entfallen, so würden sich die Gleichungen stellen:

Konservative 12 207,6 : 1 126,3 = 397 : X Reichspartei 12 207,6 : 367,2 = 397 : X Nationalliberale 12 207,6 : 1 662,7 = 397 : X Zentrum 12 207,6 : 1 996,8 = 397 : X Fortschrittliche Volkspartei 12 207,6 : 1 497,0 = 397 : X Polen 12 207,6 : 441,7 = 397 : X Sozialdemokraten 12 207,6 : 4 250,4 = 397 : X Welfen 12 207,6 : 84,6 = 397 : X Dänen 12 207,6 : 17,3 = 397 : X Elsaß-Lothringer 12 207,6 : 162,0 = 397 : X Wild 12 207,6 : 601,6 = 397 : X

Die auf die einzelnen Parteien entfallenden Verhältniszahlen würden dann sein: Konservative 36,66, Reichspartei 11,9, Nationalliberale 54,0, Zentrum 66,5, Fortschrittliche Volkspartei 48,68, Polen 14,4, Sozialdemokraten 138,2, Welfen 2,7, Dänen 0,64, Elsaß-Lothringer 4,7, Wilde 19,5, und es wären unter Zuteilung je eines der 5 auf die Dezimalstellen entfallenden Abgeordneten an die darin am höchsten stehenden Parteien gewählt:

Konservative      37 gegen  43 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Reichspartei      12 gegen  14 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Nationalliberale  54 gegen  45 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Zentrum           66 gegen  91 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Fortschr.Volksp.  49 gegen  42 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Polen             14 gegen  18 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Sozialdemokraten 138 gegen 110 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Welfen             3 gegen   5 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Dänen              0 gegen   1 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Elsaß-Lothringer   5 gegen   9 i.J.1912 tatsächlich gewählte
Wilde             19 gegen  19 i.J.1912 tatsächlich gewählte

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Wie man sieht, kommt jede Wahlstimme und graduell jede Gruppe im Staate zur Geltung. Weitere Vorzüge sind: Die Wahl erledigt sich glatt an einem Tage, bei den Wahlkämpfen fällt die verbitternde verhetzende Wirkung, insbesondere die persönliche Verunglimpfung fast ganz fort. Auch alle Stichwahlen fallen, wie obiges Beispiel zeigt, fort, desgleichen alle Ersatz- bezw. Nachwahlen, weil beim Ausscheiden durch Tod oder Mandatsniederlegung einfach der Nächstfolgende seiner Wahlliste als gewählt gilt.

Schroffe Gegner der Verhältniswahl sind bezeichnenderweise durchweg die Berechtigten der ersten Wählerklasse der bisherigen Wahlsysteme sowohl in den Staats- wie Kommunalparlamenten. Wie die Verhältniswahl in einer großen Kommune wirken würde, schildert Dr. Bodmann in Nr. 10 der Düsseldorfer Lokalzeitung vom 9. 3. 1918.

"Nach der Abstimmung bei der Hauptwahl von 1912 würden 36 Stadtverordnetensitzen entfallen auf die 38 000 Stimmen der Roten 16 Sitze, auf die 33 000 Stimmen der Schwarzen 13 Sitze, auf die 12 000 Stimmen der Blauen 5 Sitze, und die zwei letzten auf die 5 000 Stimmen der übrigen Parteien, wenn sie ihre Listen zu verbunden erklärten."

Nach der Verhältniswahl werden nach der Wahlgesetznovelle künftig im Reiche in 23 Wahlkreisen 80 Abgeordnete gewählt. Für eine Anzahl großindustrielle und gemischt-sprachliche Wahlbezirke wird das nach dem neuen Wahlgesetz auch in Preußen der Fall sein.

Die Verhältniswahlsysteme werden und brauchen nicht bei beiden Parlamenten gleich zu sein. Ganz gleich aber, wie sie beschaffen sein werden, sie sind Meilensteine für die Einführung der Verhältniswahl für alle durch Wahlen zusammengesetzten öffentlichen Körperschaften.

Arbeitersekretär Emil Hartwig, Bielefeld.

(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Praktischer Vergleich

Erstellt am 24.1.98 - Letzte Änderung am 31.1.1998.
Winfried Hartwig
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