Inhalt:
Die Kindheit
Who is Who - Entwurf
Lebenslauf
Situation 1936
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Emil Karl HARTWIG - Meine Kindheit


Abschrift: [zum Orginal]
1.
"In der Heimat ist es schön" heißt es in einem alten, schönen Volksliede. Jeder Deutsche findet wohl das Stückchen Heimat in dem er geboren wurde schön und er liebt es. In dem Blütenkranze schöner Landschaften nenne ich eine der schönsten die westfälische Grafschaft Mark. Mit ihren silbernen Flüssen Lenne, Volme, Ruhr, mit seinen gewerbfleißigen Städten, um nur einige zu nennen - Hagen, Hohenlimburg, Lüdenscheid, Altena, Iserlohn. Jede dieser Städte hat ein Spezialgebiet menschlicher Arbeit und menschlichen Fleißes. Diese Städte untereinander werden verbunden durch gewerbfleißige Täler, wie jeder Ort gewerbfleißige, industrielle Bevölkerung beherbergt. Die Bergkämme, die die Grafschaft Mark durchziehen, vervollständigen den Reiz, den das landschaftliche Bild bietet. Den Mittelpunkt des [Handels] und industriellen Lebens bildet die Stadt Hagen. Hagen ist meine Vaterstadt. Hier wurde ich am 30. September 1873 geboren. Die elterliche Wohnung lag am Puppenberge. Mein Vater, Friedrich Hartwig stammte aus dem früheren Fürstentum Waldek und war vermählt mit Mathilde Knote [und] betrieb dort das ehrsame Handwerk der Schneiderei. "Herren und Damen - Trailleur". Er war selber in Paris gewesen, was einem Schneider damals sehr viel nützen konnte. Das Handwerk nährte seinen Mann und eine Reihe von Gehilfen zeugten davon, daß der Meister seine Kunst verstand. Ein Lungenleiden, daß sich mein Vater während des Krieges 70-71, an dem er als Unteroffizier teilnahm, zugezogen hatte, raffte ihn nach längerem Leiden im August 1873 hin. Am 30.9.73 erblickte ich das Licht der Welt. Über meine ersten Jugendjahre, die Tage meiner ersten Kindheit kann ich nicht viel berichten. Außer mir hatte meine gute und liebe verstorbene Mutter noch drei Geschwister zu betreuen. Ein älterer Bruder Max, eine Schwester Alma starben früh in den ersten Kinderjahren. Neben mir wuchs heran mein einziger Bruder Oskar.
2.
Um meine noch jugendliche Mutter bewarb sich der Feilenhauer Friedrich Sturm. Er war nicht nur seiner Person nach ein hübscher, stattlicher Mann, sondern auch in seinem Fach ein hervorragender Meister. Seiner Persönlichkeit nach war für ihn die Gewähr zu bieten, daß er seiner Frau und seiner Familie eine gesicherte Zukunft schaffen würde. Aber mit seinem Namen, mit seiner Person sollte sich ein grausames Schicksal für die Familie Hartwig verbinden. Bei der Wiederverheiratung wurde, was gesetzlich notwendig war, für die beiden Kinder das gesetzliche Pflichtteil vormundschaftlich festgelegt und so bekam jeder, mein Bruder und ich 3000,- Taler auf der Sparkasse deponiert. Einige Jahre nach der Wiederverheiratung wurde das Hagener Anwesen und Vermögen zu Geld gemacht und mein Stiefvater verlegte seinen Wohnsitz nach Neheim bei Arnsberg. Hier erwarb er ein kleines Eigentum und errichtete dort eine Feilenhauerei. Aus der Hinterlassenschaft meines Vaters waren dessen Jagdgerätschaften in den Besitz meines Stiefvaters gekommen. Sie waren es zunächst, die eine unheilvolle Rolle spielen sollten. Mein Stiefvater hatte schon vor der Verheiratung der Jagd mit Leidenschaft angehangen. Nun, nachdem er verheiratet war und eine vollständige Jagdausrüstung übernahm, suchte er diesem, seinem Hang nach Möglichkeit zu fröhnen. Dadurch kam er mit seinem Betrieb der Feilenhauerei immer mehr zurück. Er konnte sehr bald auch die Jagdgebühren nicht mehr aufbringen und begann,um seiner Leidenschaft weiter nachgeben zu können, zu wildern. Dadurch wurde das Familienleben sehr bald von Grund auf zerstört. Durch die vielen Bergfahrten kam es, daß sich mein Stiefvater dem Alkohol ergab und viele Tage und Nächte nicht daheim war. Die ganze Sorge für die Erhaltung der Familie, die inzwischen um drei Kinder vermehrt worden war, lag auf meiner Mutter. Diese drei Stiefgeschwister waren Fritz, Mathilde und Anna Sturm.
3.
Nun war ich allmählich fünf Jahre alt geworden und die ganze Furchtbarkeit eines verarmten und durch einen verwahrlosten Vater noch gefährdeten Familienlebens sind in meiner Kindheitsseele lebendig geblieben. Wie groß oft bei uns die Not und Armut war, sei kurz an einigen Beispielen geschildert. So war es für uns ein Leckerbissen wenn die Mutter einfache "arme Ritter" daß ist in der Pfanne gebackene Brotscheiben backte. Oder wenn wir zweimal in der Woche mit anderen armen Kindern zum Schlosse des Fürsten von Fürstenberg zogen, um uns dort eine Portion Essen schenken zu lassen. In diese Zeit, als kaum meine Eltern sich in Neheim niedergelassen hatten, fällt ein Ereignis, daß für mein Leben besonders furchtbar und verhängnisvoll geworden ist. In unserem Häuschen lag die Wohnung im ersten Stock, die oben mit einem kleinen Gittertürchen der Kinder wegen geschlossen wurde. Eines Tages war ich mit meiner Mutter allein in der Wohnung. Während sie sich mit häuslichen Arbeiten beschäftigte, spielte ich, stürzte dabei die Treppe hinab, um unten mit zerbrochenem Rückgrat liegen zu bleiben. Erst nach einiger Zeit vermißte mich die Mutter - sie trug mich zum Arzt. Aus diesem Vorfall her rührte auch eine starke innere, skrufulöse Veranlagung, die erst in späteren Jahren langsam ausheilte. Darauf komme ich später nochmal zurück. So gingen meine Jugendjahre hin. Zwischen Not und Entbehrung, die besonders schwer auch für meine Mutter gewesen sind. Hier sei eingeschaltet, daß sowohl mein rechter, wie mein Stiefvater evangelisch waren und meine Mutter gut katholisch war. In unserer Wohnung hingen die Bilder Martin Luthers, wie auch des Papstes und der Mutter Maria. Die Kinder wurden alle, wie die Väter evangelisch.

Emil Karl HARTWIG - Who is Who?


([?..?] = unleserlich, [(1)...][(2)...] = ursprüngliche und geänderte Fassung, [#...] = Streichungen), [* ...] = Einfügungen)

Abschrift eines zu unterschiedlichen Zeiten handschriftlich ergänzten Manuskripts: für den jeweiligen Eintrag im "Who is Who" Anfang der dreißiger Jahre.
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1.
Emil Karl H a r t w i g wurde am 30.IX.1873 in Hagen in Westfalen als Sohn des Schneidermeisters Friedrich Hartwig geboren. Sein Vater starb kurz vor seiner Geburt. [(1)Die Mutter mußte schwer krank in ein Siechenhaus gebracht werden und die Kinder kamen ins Waisenhaus. Er wurde als sehr elendes Kind in die Knabenanstalt Nazareth in Bethel bei Bielefeld aufgenommen. An regelmäßigen Schulbesuch war bei seiner schwachen Gesundheit, vielerlei Krankheit und Operationen nicht zu denken.] [(2)Die Mutter heiratete später einen Feilenschmied Friedrich Sturm. Der Stiefvater brachte Not über Mutter und Kinder. Schwere unheilbare Krankheit zwang die Mutter - die vom Stiefvater sich getrennt hatte - sich auch von den Kindern zu trennen. Die Kinder wurden in Waisenhäuser untergebracht. Emil Hartwig kam endlich in die Obhut des Kinderheims zu Bethel bei Bielefeld. Er besuchte die Knabenschule [?........?] Kinder in Nazareth. Schwere [?Krankheit?/?Rücken....?] fesselte ihn Jahre der Kindheit an Bett und Krankenzimmer.] Nach seiner Einsegnung lernte er [# in der Anstaltsschneiderei] das Schneiderhandwerk, machte sich auch nach seiner Wanderzeit selbständig. Später mußte er den Beruf aus Gesundheitsgründen aufgeben, ging zum Galvanisirberuf über. Nach längerer Lehrzeit erhielt er Stellung als Vernickler in einer Herdfabrik. Hier geriet er in Konflikt mit dem Arbeitgeber, der seine jugendlichen Arbeiter im Widerspruch zu den Gesetzen ausnutzte, der Fabrikant wurde bestraft, Hartwig entlassen. Schon früh hatten ihn die Ideen und das Wirken Adolf S t ö c k e r s [# ,die weltlichen Zustände zu christianisieren,] angezogen. Hatte er sich schon vorher als Gehilfe werbend und leitend in den evangelischen Jünglingsvereinen betätigt, so gründete er jetzt christliche Zeitschriftenvereine und arbeitete [(1)in der Stöckerschen Schriftenmission] [(2)an der Verbreitung der Stöckerschen Schriften]. 1903 trat er in die christliche Gewerkschaftsbewegung, in den christlich sozialen Metallarbeiterverband ein [*, gründete in seiner Heimat Ortsgruppen] und suchte auch andere Berufe christlich zu organisieren.

Durch einen sozialen Ausbildungskursus 1903 in Berlin kam er in persönliche Verbindung mit den Vertretern christlich-sozialer Ideen (Stöcker, D.Mumm, Behrens) und wurde 1904 vom Kirchlich-sozialen Bund als erster evangelischer Arbeitersekretär [?des Westens?] in Hagen freigestellt und schuf dort eine starke Arbeiterbewegung, wurde 1905 zum Mitglied des Ausschusses der deutschen Arbeiterkongresse gewählt.

In Hagen gründete er sich auch seinen Hausstand mit Klara Pfänder. [(1)Aus dieser Ehe stammen 5 Kinder, nach dem Tode seiner Frau im Jahre 1917 gab er seinen Kindern in seiner zweiten Frau Anna Sickmann eine treue Mutter, aus dieser Ehe stammen 2 Kinder] [(2)Zwei Töchter und drei Söhne schenkte Gott dem Ehepaar. 1917 starb die Mutter. Eineinhalb Jahre Später trat Anna Sickmann als Ehefrau an seine Seite und wurde den Kindern eine treusorgende Mutter. Eine Tochter und ein Sohn vergrößerten den Kreis der Familie.]

In den Kreisen Hagen und [?Schwenden?] setzte Hartwigs Tätigkeit für die Christlich-soziale Partei ein, der er aus der Arbeiterschaft zahlreiche Mitglieder zuführte. 1906 wurde er in den Vorstand der Partei gewählt [(1), war dann einige Jahre als Geschäftsführer der Partei in Bremen tätig]. Von Mitte 1905 arbeitete er in den Schriftleitungen verschiedener Zeitungen in Berlin und Goslar[(2), war von 1909 als Geschäftsführer des Evangelischen Volksbüros und der christlich-sozialen Partei] und war im Jahre 1912 bei der Gründung der Evangelisch-sozialen Schule (Ausbildungsstätte für evangelische Arbeitersekretäre) beteiligt und als Geschäftsführer dieser Schule nach Bethel berufen und hat dieses Amt bis zum Jahre 1921 innegehabt. Gleichzeitig wurde für die im Beruf stehenden evangelischen Arbeiter- und Gewerkschaftssekretäre ein Zusammenschluß in der Deutschen Evangelischen Sekretär-Vereinigung gegründet, deren Geschäftsführer er noch heute ist, wie er auch weiter als Dozent an der evangelisch-sozialen Schule, die 1921 von Bethel in das Johannisstift in Spandau verlegt worden ist, wirkt.

Nach der Umgestaltung des politischen Lebens infolge der Revolution ging die Christlich soziale Partei in der Deutschnationalen Volkspartei auf. Innerhalb der deutschnationalen Volkspartei gründete Hartwig 1918 den Reichsarbeiterausschuß der Partei, aus dem sich 1922 der Deutschnationale Arbeiterbund entwickelt hat, den er als Vorsitzender [(1)leitet.] [(2)bis zum Dezember 1929 - also bis zu seiner Trennung von Hugenberg - leitete. Der größte Teil des Bundes folgte dem Vorsitzenden Hartwig und trennte sich ebenfalls von der D.N.V.P.] 1920 [neu in den folgenden Wahlen] wurde er im Wahlkreis Hessen Nassau als deutschnationaler Abgeordneter in den Reichstag gewählt, hier arbeitet er vorwiegend im Sozialen-, Steuer- und Bildungsausschuß. Er ist Mitglied des Ausschusses zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft(Enquete-Ausschuß). Er war Landesverbandsvorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei, er gehörte der Parteivertretung, dem Hauptvorstand und der Parteileitung an. [* Seit Hugenbergs Parteiführung bekämpfte er die unsoziale und fragwürdige kulturelle Politik. Mit Gleichgesinnten organisierte er Anhörungen christlich-sozialer Politik in Deutschland. Die Vereinigung mit dem Christlichen Volksdienst brachte ihm und seinen Freunden wieder freie Gewissensgeltung auf dem politischen Arbeitsfelde.]

In dem Leben Hartwigs nimmt die kirchliche Arbeit besonderen Raum ein. Die Arbeiterschaft für die evangelische Kirche und damit für das Reich Gottes zu gewinnen, ist das Ziel seiner Arbeit. Die evangelische Arbeiter- und Gesellen[?...?]bewegung hat er in jeder Weise auf das wirksamste gefördert. Hartwig wurde Mitglied der brandenburgischen Provinzialsynode, des brandenburgischen Provinzielkirchenrats, der preußischen Generalsynode, des Senats der evangelischen Kirche altpreußischer Union, des deutsch-evangelischen Kirchentages, des sozialen Dauerausschusses der evangelischen Kirche Preußens, er gehört dem Verwaltungsrat und dem Vorstand des Centralausschusses für Innere Mission und dem Vorstande des Kirchlich-sozialen Bundes an [* und ist Korrespondent des sozialwissenschaftlichen Instituts der Weltkirchenkonferenz in Genf]. Rednerisch und schriftstellerisch ist Hartwig auf kirchlichem, sozialen und politischen Gebiet seit Jahren tätig, ebenso durch die Mitarbeit an der Tagespresse und Zeitschriften. Er leitete seit ihrer Gründung im Jahre 1912 die "Evangelisch sozialen Stimmen" bis zu ihrer [?Erweiterung?] als Organ der Arbeitervereine, er redigiert die "Mitteilungen" als Organ der Sekretär-Vereinigung und wirkt mit an der "Deutschen Arbeiterstimme" dem politischen Organ de[(1)s deutschnationalen Arbeiterbundes] [(2)r nationalen und christlich-sozialen Arbeiterschaft]. Das kirchlich-soziale und evangelisch soziale Bildungswesen hat Hartwig stark beeinflußt und vorwärts getrieben. Immer ist sein Ziel darauf gerichtet, die evangelischen Arbeiter zu einer christlichen Standesbewegung zusammenzuschließen, ihnen Anerkennung und Gleichberechtigung zu erkämpfen und im öffentlichen Leben unseres Volkes die christlich[(1)-sozialen Ideen zu verwirklichen] [(2)en Persönlichkeiten ausschlaggebend zu verankern].


Emil Karl HARTWIG - Lebenslauf (1936)


Aus meiner Arbeit

(Abschrift eines Lebenslaufes anläßlich einer Bewerbung um eine Arbeitsstelle bei der evangelischen Kirche 1936.)
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Aus meiner Arbeit sei hier nur Folgendes berichtet:

Ich bin am 30. Sept. 1873 als Sohn des Schneidermeisters Friedrich Hartwig in Hagen/Westf. geboren und dortselbst am 12.10.73 in der größeren evangelischen Kirche getauft worden. Meinen Vater habe ich nicht gekannt. Er starb kurz vor meiner Geburt. Wir Geschwister, meine beiden Brüder und meine beiden Schwestern kamen so auseinander. Meine Brüder in ein Waisenhaus in Hamm, meine Schwestern zu entfernten Verwandten. Ich kam zunächst in ein Krankenhaus in Neheim b. Arnsberg. Im Alter von 8 Jahren (1881) brachte mich der ev. Pfarrer Ringleb aus Neheim nach Bielefeld zu Pastor von Bodelschwingh, wo ich im Waisenhaus zum guten Hirten, dann im Kinderheim der Anstalt Sarepta Aufnahme fand. Ich war als Kind, außer durch Rückgratverkrümmung, die ich mir durch Sturz im 2. Lebensjahre zugezogen hatte, sehr stark screfulös und zwar so stark, daß ich monatelang die Schule nicht besuchen konnte. Im Jahre 1884 kam ich aus dem Kinderheim in die Anstalt Nazareth für epileptische Knaben. Dort blieb ich bis zu meiner Konfirmation. In Neheim besuchte ich zunächst die katholische Volksschule, später die einklassige Schule in Nazareth. Schwere Erkrankungen, die mich wiederholt an den Rand des Todes führten und die mangelhaften Schulverhältnisse haben in meiner Schulbildung mancherlei Lücken gelassen, die auch ernste Selbstbildung nie ganz hat schließen können. Den Konfirmandenunterricht erhielt ich durch Pastor Stürmer und Pastor von Bodelschwingh, bei ersterem bin ich konfirmiert worden.

Ich hatte den Wunsch, Uhrmacher zu werden. Die Anstaltsleitung, es war Pfarrer Siebold dafür maßgebend, entschied, ich möchte ein in der Anstalt erlernbares Handwerk wählen, und so erlernte ich das Handwerk meines Vaters, ich wurde Schneider. In der Schneiderei Pniel der Anstalt Bethel unter Leitung des Hausvaters Corswandt wurde ich ausgebildet. Unter den etwa 15 kranken, epileptischen Schneidern waren 4 - 5 gesunde Gehilfen und 2 Lehrlinge. Die drei Lehrjahre habe ich mit einer Gesellenprüfung gut abgeschlossen. Gesundheitlich galt ich von der Scrofulose geheilt, weil ich einige Mal zur Kur im von Pastor von Bodelschwingh in Salzuflen unterhaltenem Kindersolbad weilen durfte. Darum ging ich mit Abschluß der Gesellenprüfung sofort auf die Wanderschaft. Bereits während meiner Lehrzeit beteiligte ich mich lebhaft am Leben des evangelischen Jünglingsvereins. Mit einigen Freunden organisierte ich eine Werbearbeit unter den Lehrlingen der Gewerbeschule, die ich in jener Zeit besuchte, so daß wir uns hier bald in zwei Lager "Christen" u. "Atheisten" sonderten. Auf der Wanderschaft bin ich durch Westfalen, den Rhein hinauf nach Baden, der Schweiz und mit kurzem Abstecher nach Paris gewandert. In Frankfurt/M., Karlsruhe, Basel und Freiburg habe ich kurz gearbeitet. Einige Monate auch in Paris. In Köln/Rh. absolvierte ich einen Zuschneiderkursus in der Faßhauerschen Schule. Danach ging ich wieder zur Heimat, nach Gevelsberg, zurück. Während meiner Wanderschaft habe ich mich stets des Wanderbuches des Westdeutschen Jünglingsbundes bedient und überall die Sache meines Herrn Jesu vertreten. Überall in den atheistisch verseuchten Schneiderwerkstätten hatte ich oft einen schweren Kampf gegen rohen Spott und tätliche Verhöhnung zu führen und mußte meine Arbeitsstelle aus diesen Gründen oft wechseln.

Nach meiner Rückkehr nach Westfalen habe ich zuerst in Annen b. Dortmund Arbeit erhalten. Dort trat ich wieder unter Vorlegung meines Wanderbuches dem Jünglingsverein bei. Der Verein, der unter Leitung eines Anstreichermeisters Jakobi stand, Vorsitzender war Pastor Boos, litt schwer unter inneren Wirren. Nach kurzer Zeit übernahm ich die Leitung. Mit Hilfe der Mitglieder rief ich den Posaunenchor wieder ins Leben. Die Instrumente wurden durch Sammlungen beschafft. Ein Sängerchor, zu dessen Leitung ich einen Ingenieur der dortigen Kruppwerke gewann, folgte. Danach gründete ich eine Abteilung für Schriftenmission, die nur junge Leute mit besonderem Beitrag aufnahm. Wir vertrieben bald 100 Stadtmissions- u. 200 Predigtblätter von Stöcker, sowie 400 Sonntagsfreunde aus der alten Jacobikirche. Diese Arbeit brachte jeden Sonntag Gottes Wort in viele Arbeiterhäuser. Dann begann ich unter dem Protektorat des Pastors Boos und anderer für das Evangelische Vereinshaus zu sammeln. Den Kauf und die Einweihung habe ich nicht miterlebt,. Später bin ich oft mit der Bahn von Dortmund nach Witten an dem Annener Evangelischen Vereinshaus vorbeigefahren und habe dankbar der Zeit gedacht, da ich dort für Gottes Reich habe wirken können. Noch heute ist ein früherer Mitarbeiter in der Leitung der Arbeit, August Kindler, dort Hausvater. Mich führte mein Beruf wieder weiter. In Lengerich i. W. war ich nur kurze Zeit. Im Jünglingsverein wirkte ich auch dort durch Vorträge mit. Meine Geschwister riefen mich dann nach Gevelsberg. Hier hatte ich bei mehreren Firmen gearbeitet, dann ein eigenes Schneidergeschäft gegründet mit gutem Zuspruch. Bald wurde ich sehr krank und die Ärzte rieten dringend zur Aufgabe des Berufes. Kurz entschlossen ging ich 1902 in eine Galvanisieranstalt von neuem in die Lehre. Praktisch und theoretisch hatte ich diesen Beruf recht bald erfaßt. Nach einem halben Jahr erhielt ich in der Herdfabrik von F. Beckhake in Gevelsberg eine Stellung als Vernicklermeister.

In einer Versammlung in Gevelsberg lernte ich [?früh?] Lic. Reinhard Mumm, der über das Thema "Warum treiben wir eine christliche und nicht sozialistische Arbeiterpolitik" sprach, diese ganze Arbeit kennen. Mit Lic. Mumm blieb ich fortan in Verbindung. Im Herbst 1903 trat ich dem Christlichen Metallarbeiterverbande in Siegen bei, gründete Zahlstellen in Gevelsberg, Schwelm, Hörde, Milspe, Haspe. Im Jahre 1904 besuchte ich von Mitte Mai bis Ende Juli den 1. Sozialen Ausbildungskursus, der unter Leitung von D. Mumm und Lic. Schneemelcher stand und der vom Kirchlich-sozialen Bund unter Adolf Stöcker und dem Evangelischen Sozialen Kongreß unter D. Harnack veranstaltet war. Er hatte über 40 Teilnehmer. Im Herbst 1904 berief mich der Kirchlich-soziale Bund als ersten evangelischen Arbeitersekretär Westdeutschlands nach Hagen i.W. Dort leitete ich das Evangelische Volksbüro, das ich bald eines außerordentlich starken Zuspruches erfreute. Im Frühjahr 1905 gründete ich den Evangelischen Volksverein für Hagen und Umgegend, der bald in 7 Untergruppen unter einem Hauptvorstand über 3000 Mitglieder zählte. Die Sterbekasse hatte 4000 Mitglieder. Mit den Pfarrern arbeitete ich Hand in Hand. So Pastor Ackermann, Bertram u.a. Die Leserzahl des von Pastor Bertram geleiteten Gemeindeblattes stieg ganz bedeutend. Die Kirchlichkeit stieg sehr. An den Vereinsfesten, die streng kirchlichen Rahmen, unter Mitverantwortung der Pfarrer hatten, nahmen jeweilig bis zu 5 u. 6000 Personen teil. Für die damalige Zeit etwas für kirchliche Dinge Ungewöhnliches in Hagen. Während dieser meiner Wirksamkeit habe ich überall den Vereinen in der Mark, z.B. Wetter, Hohenlimburg, Haspe, Iserlohn, usw. durch Vorträge gedient, auch neue Vereine gegründet.

Unter Mithilfe von Pastor D. Crämer, Witten hielt ich überall in diesem Gebiet religiöse Ausbildungskurse über apologetische Fragen ab, die von gutem Erfolg begleitet waren. Präses D. König, Witten zog mich zu Vorträgen auf Pfarrerkonferenzen heran. Meine Tätigkeit in Hagen fand ihr Ende durch meine Berufung als Redakteur an die, damals von D. Stöcker begründete und von D. Mumm geleitete Tageszeitung "Das Reich" in Berlin. In Hagen hatte ich mit Klara Pfänder Hochzeit gehalten und uns begleitete unser kleines Töchterchen Irene nach unserer neuen Heimat Friedenau.

Von 1906 bis Ende 1907 habe ich am "Reich" die verantwortliche Redaktion geführt und bearbeitet. Auch meine schriftstellerische Arbeit stand unter dem Leitmotiv, wie kann ich die Ausbreitung des Reiches Christi fördern. Anfang 1908 übernahm ich auf Drängen meiner Freunde die Schriftleitung der "Goslarer Nachrichten" mit den Kopfblättern "Die Harzzeitung" und den "Goslarer Stadt- u. Landboten". Fast die gesamte Arbeiterbevölkerung des Harzes wurde damals für Vaterland und Kirche vom Marxismus zurückgewonnen. In der Freien Stadt Bremen begründete man unter Führung des Großkaufmannes J. K. Vieter 1909 ein Evangelisches Volksbüro, sowie die Christlich soziale Partei, um dem unter Leitung des nachmaligen Reichspräsidenten Ebert stehenden Marxismus ein Parol zu bieten. Meine Arbeit, die sich in stark zunehmenden christlichen Gewerkschaften, in einem blühenden Evangelischen Volksverein, in starkem Besuch des Evangelischen Volksbüros äußerte, war schwer, aber schön. Mit Hilfe begüterter Freunde gründete ich den "Bremer Beobachter" im Verlag von Dierenberg und führte die Schriftleitung bis zu meinem Fortgang im Herbst 1912.

Durch den Kirchlich-sozialen Bund waren im Anschluß an den ersten Ausbildungskursus 1904 weitere Kurse zur Ausbildung von Arbeitern zu evangelischen Volkssekretären abgehalten worden, so in Posen, Dresden, Hannover u.a. Im Jahre 1908 waren etwa 6 evangelische Arbeitersekretäre hauptamtlich tätig. In den christlichen Gewerkschaften waren 1912 etwa 35 evangelische Sekretäre tätig. Die ausgebildeten Kameraden schlossen sich unter Führung von Franz Behrens zur Evangelischen Sekretärsvereinigung Deutschlands zusammen. Ich übernahm die Geschäftsführung, die ich bis zum 1.7.1933, dem Tage ihrer Auflösung, inne hatte. In dieser Zeit hatte ich auch die Schriftleitung der Evangelischen sozialen Stimmen.

Marxismus und Katholizismus hatten erstklassige soziale Führer- und Bildungsinstitute. Auf evangelischer Seite fehlte alles. Die Evangelische Sekretärsvereinigung unter Führung von Behrens, D. Jäger, Bethel und unter Hilfe von D. v. Bodelschwingh gründete im Herbst 1912 in Bethel die Evangelische Soziale Schule E.V. Im Dezember 1912 übernahm ich die Geschäftsführung und D. Jäger, Bethel die wissenschaftliche Leitung, Missionar Ostermeyer, Bethel die Rechnungsführung.

Die Evangelische Soziale Schule hat unter der Leitung von D. Jäger segensreich bis zum Jahre 1921 in Bethel gewirkt. Besonders hat für die Arbeiterführer der jährliche achttägige Bibelkursus, den D. Jäger leitete, und an dem jährlich namhafte deutsche Theologen mitwirkten, viel Segen gestiftet. Aber auch die 6-wöchentlichen Arbeiterkurse, die vielen sozialen Pfarrer-, Studenten-, Diakonen-, Arbeitgeber-, Arbeiterinnen- etc. Kurse sind Saaten evangelischen Glaubens und Kräftigung der Liebe zur Kirche gewesen.

Im Jahre 1917 starb mir meine Frau, die Mutter dreier meiner Söhne und zweier Töchter. Meine Kinder waren alle noch klein, das jüngste erst ein halbes Jahr, als meine Frau heimging. Ein Jahr später gab ich meinen Kindern in Anna Siekmann aus Jöllenbeck eine treusorgende Mutter. Gott schenkte uns noch eine Tochter und einen Sohn, so daß ich sieben gesunde Kinder mein eigen nenne.

Drei von ihnen sind verheiratet, zwei in der Lehre bzw. im Haushalt, ein Knabe 12 Jahre alt. Meine Söhne bzw. Schwiegersöhne sind in kleinen Angestellten- und Kaufmannsstellungen tätig.

Während des Krieges redigierte ich in Bielefeld die "Westfälisch-lippische Volkszeitung" und hielt daneben in neuen Orten des Ravensberger Landes soziale Sprechstunden ab. Der Ausbruch des Krieges hat die Arbeit verengt, aber nicht versiegen lassen. Der Krieg brachte u.a. auch der Evangelischen Johannesstift, Spandau viel Not. Um die vielen wissenschaftlichen Quellen der Hauptstadt für die Evangelische soziale Schule zu nutzen und um gleichzeitig dem Johannesstift über die schwere Zeit zu helfen, verlegte der Vorstand die Schule nach dem Johannesstift. Die Evangelische soziale Schule interessierte damals gleichzeitig den deutsch-nationalen Handlungsgehilfenverband für die Durchhaltung des Johannesstiftes als kirchliche Stiftung. So legte dieser Verband seine Bildungseinrichtungen nach dem Johannesstift. Unter Leitung von Dr. Schreiner erstarkte allmählich das Stift, ja später hat es der oft sehr notleidenden Evangelischen sozialen Schule geholfen. Durch finanzielle Hilfe des E.O.K. wurde das Institut, das fast nur von Beiträgen der Sekretäre lebte, bis 1933 durchgehalten.

Bereits Januar 1920 war ich auf Vorschlag der evangelischen Arbeiterschaft des Dill- u. Lahngebietes von der Deutschnationalen Volkspartei in den Reichstag entsandt. Als Abgeordneter gehörte ich dem Reichstag von 1920 bis 1932 an. In meiner politischen Arbeit habe ich in enger Fühlung mit D. Mumm versucht der Kirche, der Inneren Mission und dem evangelischen Volksleben zu dienen, wo ich nur konnte. Ich gehörte stets dem Hauptvorstande, mehrere Jahre auch der engeren Leitung der D.N.V.P. an. Gründete und leitete die Arbeiterorganisation der Partei von 1919 bis 1929. Für diese Organisation der Partei schuf ich die "Deutsche Arbeiterstimme" und berief als Berufsarbeiter im Jahre 1920 den bisher für den Kirchlich-sozialen Bund tätigen Sekretär Paul Rüffer, in die Schriftleitung, 1921 den Redakteur Wilhelm Lindner aus Bielefeld zum Geschäftsführer, während ich als ehrenamtlicher Vorsitzender tätig blieb.

In meiner evangelisch-kirchlichen Arbeit konnte ich zur Gründung von Evangelischen Volksbüros anregen und zur Gründung evangelischer Vereinigungen, insbesondere evangelischer Arbeiter-, Arbeiterinnen- und Gesellenvereinen beitragen. Im Jahre 1925 bewilligte der Reichstag eine größere Summe zum Ausbau der Bildungseinrichtungen der Arbeiterorganisationen. Als Vertreter meiner Fraktion konnte ich die Berücksichtigung der evangelischen Arbeiter- u. Gesellenvereine mit einem wirksamen Beitrag erreichen. Der Verband Evangelischer Gesellenvereine, dessen Vorstand ich angehörte und dessen Ehrenmitglied im Jahre 1933 wurde, berief auf meine Anregung im Jahre 1928 einen Berufsarbeiter. An den christlichen Gewerkschafts- und evangelischen Arbeiter- und Gesellenvereinsblättern habe ich, fast stets unentgeltlich, rege mitgearbeitet. Während meiner Bremer Wirksamkeit habe ich den evangelischen Arbeitervereinen in Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Schleswig-Holstein weitgehend Hilfe leisten können.

Nachdem für die Evangelische Kirche der altpreußischen Union eine Verfassung gegeben war, gehörte ich der Generalsynode als Mitglied in der positiven Union an, zu derem engeren Vorstand ich angehörte. Die Generalsynode entsandte mich bei der Konstituierung in den Senat der Evangelischen Kirche der altpreußischen Union, dem ich während der Zeit seines Bestehens angehörte. In den Kommissionen der Generalsynode war ich besonders im Finanz- und Sozialen Ausschuß tätig. Im Kirchensenat war ich Mitglied des sozialen Dauerausschusses. Den Evangelischen Kirchentagen in Königsberg und in Nürnberg habe ich als ordentliches Mitglied auch angehört. In der Brandenburgischen Provinzialsynode war ich als Fachvertreter der evangelischen Arbeitervereine ordentliches Mitglied und gehörte so dem Provinzialkirchenrat, sowie dem sozialen Dauerausschuß der Brandenburgischen Provinzialsynode an.

In meiner evangelisch-sozialen Wirksamkeit durfte ich an manchen verantwortlichen Posten außerdem noch mitarbeiten. So gehörte ich dem Hauptausschuß der Inneren Mission und dem Verwaltungsrat mehrere Jahre an. Dem Kirchlich-sozialen Bund war ich seit Adolf Stöcker, in dessen Hause ich noch verkehren durfte, treu und habe lange seinem Vorstande und schließlich dem engeren Vorstande bis 1934 angehört, ebenfalls durfte ich in dem Kuratorium und dem Stiftsvorstande des Evangelischen Johannesstiftes mehrere Jahre mitarbeiten.

Ein Wort noch über die Arbeit, die mir parlamentarisch oblag. In der christlich-sozialen Arbeit groß geworden, durfte ich gemeinsam mit D. Jäger in Westfalen den Zusammenschluß zur D.N.V.P. mit den Konservativen unter Herrn Klasing durchführen. Später schloß ich mich dem Volksdienst an. Im Reichstage habe ich besonders im Sozialen-, im Steuer- und Hauptausschuß mitgearbeitet. Einige Jahre war ich Mitglied des Beirats der Deutschen Reichsbahn, sowie des Enqueteausschusses und des Verwaltungrates der Deutschen Reichspost. Auch zum Kuratorium für die deutschen Jugendherbergen gehörte ich einige Jahre. All dieser Wirksamkeit setzte zunehmende Erkrankung meines an sich schwachen Körpers im Laufe des Jahres 1932 ein Ziel. So lehnte ich auch bei Auflösung des Reichstages die neue Annahme eines Mandats ab, mußte mich weiter aus fast allen anderen Ämtern zurückziehen. Für meine invaliden Tage hatte meine Frau und ich gespart, soweit wir konnten. Ich erwarb mir aus dem kleinen Kapital ein kleines Eigentum, um für mich und meine Familie eine Heimat zu haben. Außer der Angestelltenversicherung, die mir monatlich 86 RM Rente zahlt, hatte ich Anspruch auf eine kleine Pension aus der Beamten-Pensionskasse des Gesamtverbandes der Christlichen Gewerkschaften, in die ich seit dem Jahre 1906 bis 1932 aus eigenen Mitteln meine Beiträge gezahlt hatte. Ich erhielt aus dieser Kasse eine Monatsrente von 125 RM. Diese Rente habe ich von der Deutschen Arbeitsfront bis zum 1. Juli 1934 erhalten. Seitdem ist den Beziehern diese Rente entzogen worden. So habe ich jetzt nur noch meine Angestelltenrente, dazu das Wirschaftsgeld eines Sohnes und hin und wieder von persönlichen Freunden eine freundliche Beisteuer. Für meine Wohnung muß ich monatlich 75 RM aufwenden. Drei meiner Kinder sind noch ganz auf mich angewiesen, der ich jetzt im 63. Lebensjahr stehe. Gott der Herr hat mich und die meinen durch viel Freude und Lebenskampf geführt. Ihm sei auch mein Alter und meine Familie in die Hände gelegt.

Quelle: privat


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Erstellt am 14.05.97 - Letzte Änderung am 31.01.1998.
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