zur Texte-Ãœbersicht - RR «««

Verfasser/Cover

Emil Karl HARTWIG - Meine Kindheit

Abschrift:
1. Seite
"In der Heimat ist es schön" heißt es in einem alten, schönen Volksliede. Jeder Deutsche findet wohl das Stückchen Heimat in dem er geboren wurde schön und er liebt es. In dem Blütenkranze schöner Landschaften nenne ich eine der schönsten die westfälische Grafschaft Mark. Mit ihren silbernen Flüssen Lenne, Volme, Ruhr, mit seinen gewerbfleißigen Städten, um nur einige zu nennen - Hagen, Hohenlimburg, Lüdenscheid, Altena, Iserlohn. Jede dieser Städte hat ein Spezialgebiet menschlicher Arbeit und menschlichen Fleißes. Diese Städte untereinander werden verbunden durch gewerbfleißige Täler, wie jeder Ort gewerbfleißige, industrielle Bevölkerung beherbergt. Die Bergkämme, die die Grafschaft Mark durchziehen, vervollständigen den Reiz, den das landschaftliche Bild bietet. Den Mittelpunkt des [Handels] und industriellen Lebens bildet die Stadt Hagen. Hagen ist meine Vaterstadt. Hier wurde ich am 30. September 1873 geboren. Die elterliche Wohnung lag am Puppenberge. Mein Vater, Friedrich Hartwig stammte aus dem früheren Fürstentum Waldek und war vermählt mit Mathilde Knote [und] betrieb dort das ehrsame Handwerk der Schneiderei. "Herren und Damen - Trailleur". Er war selber in Paris gewesen, was einem Schneider damals sehr viel nützen konnte. Das Handwerk nährte seinen Mann und eine Reihe von Gehilfen zeugten davon, daß der Meister seine Kunst verstand. Ein Lungenleiden, daß sich mein Vater während des Krieges 70-71, an dem er als Unteroffizier teilnahm, zugezogen hatte, raffte ihn nach längerem Leiden im August 1873 hin. Am 30.9.73 erblickte ich das Licht der Welt. Über meine ersten Jugendjahre, die Tage meiner ersten Kindheit kann ich nicht viel berichten. Außer mir hatte meine gute und liebe verstorbene Mutter noch drei Geschwister zu betreuen. Ein älterer Bruder Max, eine Schwester Alma starben früh in den ersten Kinderjahren. Neben mir wuchs heran mein einziger Bruder Oskar.

2. Seite
Um meine noch jugendliche Mutter bewarb sich der Feilenhauer Friedrich Sturm. Er war nicht nur seiner Person nach ein hübscher, stattlicher Mann, sondern auch in seinem Fach ein hervorragender Meister. Seiner Persönlichkeit nach war für ihn die Gewähr zu bieten, daß er seiner Frau und seiner Familie eine gesicherte Zukunft schaffen würde. Aber mit seinem Namen, mit seiner Person sollte sich ein grausames Schicksal für die Familie Hartwig verbinden. Bei der Wiederverheiratung wurde, was gesetzlich notwendig war, für die beiden Kinder das gesetzliche Pflichtteil vormundschaftlich festgelegt und so bekam jeder, mein Bruder und ich 3000,- Taler auf der Sparkasse deponiert. Einige Jahre nach der Wiederverheiratung wurde das Hagener Anwesen und Vermögen zu Geld gemacht und mein Stiefvater verlegte seinen Wohnsitz nach Neheim bei Arnsberg. Hier erwarb er ein kleines Eigentum und errichtete dort eine Feilenhauerei. Aus der Hinterlassenschaft meines Vaters waren dessen Jagdgerätschaften in den Besitz meines Stiefvaters gekommen. Sie waren es zunächst, die eine unheilvolle Rolle spielen sollten. Mein Stiefvater hatte schon vor der Verheiratung der Jagd mit Leidenschaft angehangen. Nun, nachdem er verheiratet war und eine vollständige Jagdausrüstung übernahm, suchte er diesem, seinem Hang nach Möglichkeit zu fröhnen. Dadurch kam er mit seinem Betrieb der Feilenhauerei immer mehr zurück. Er konnte sehr bald auch die Jagdgebühren nicht mehr aufbringen und begann,um seiner Leidenschaft weiter nachgeben zu können, zu wildern. Dadurch wurde das Familienleben sehr bald von Grund auf zerstört. Durch die vielen Bergfahrten kam es, daß sich mein Stiefvater dem Alkohol ergab und viele Tage und Nächte nicht daheim war. Die ganze Sorge für die Erhaltung der Familie, die inzwischen um drei Kinder vermehrt worden war, lag auf meiner Mutter. Diese drei Stiefgeschwister waren Fritz, Mathilde und Anna Sturm.

3. Seite
Nun war ich allmählich fünf Jahre alt geworden und die ganze Furchtbarkeit eines verarmten und durch einen verwahrlosten Vater noch gefährdeten Familienlebens sind in meiner Kindheitsseele lebendig geblieben. Wie groß oft bei uns die Not und Armut war, sei kurz an einigen Beispielen geschildert. So war es für uns ein Leckerbissen wenn die Mutter einfache "arme Ritter" daß ist in der Pfanne gebackene Brotscheiben backte. Oder wenn wir zweimal in der Woche mit anderen armen Kindern zum Schlosse des Fürsten von Fürstenberg zogen, um uns dort eine Portion Essen schenken zu lassen. In diese Zeit, als kaum meine Eltern sich in Neheim niedergelassen hatten, fällt ein Ereignis, daß für mein Leben besonders furchtbar und verhängnisvoll geworden ist. In unserem Häuschen lag die Wohnung im ersten Stock, die oben mit einem kleinen Gittertürchen der Kinder wegen geschlossen wurde. Eines Tages war ich mit meiner Mutter allein in der Wohnung. Während sie sich mit häuslichen Arbeiten beschäftigte, spielte ich, stürzte dabei die Treppe hinab, um unten mit zerbrochenem Rückgrat liegen zu bleiben. Erst nach einiger Zeit vermißte mich die Mutter - sie trug mich zum Arzt. Aus diesem Vorfall her rührte auch eine starke innere, skrufulöse Veranlagung, die erst in späteren Jahren langsam ausheilte. Darauf komme ich später nochmal zurück. So gingen meine Jugendjahre hin. Zwischen Not und Entbehrung, die besonders schwer auch für meine Mutter gewesen sind. Hier sei eingeschaltet, daß sowohl mein rechter, wie mein Stiefvater evangelisch waren und meine Mutter gut katholisch war. In unserer Wohnung hingen die Bilder Martin Luthers, wie auch des Papstes und der Mutter Maria. Die Kinder wurden alle, wie die Väter evangelisch.



Schreibmaschinenseite 1 von 3  Schreibmaschinenseite 2 von 3  Schreibmaschinenseite 3 von 3 
nach oben, zum Anfang

Erstellt am 15.07.2015 - Letzte Änderung am 15.07.2015.