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Ein Artikel aus der Zeit des ersten Weltkrieges, der die Bedeutung der Ev.-soz.Schule unterstreicht:


Die evangelisch-soziale Schule

von Emil Hartwig

Diese Tage, da vernehmlicher wie sonst wohl die Wirkungen der Hammerschläge des Augustinermönches Martin Luther das deutsche Volk und die ganze evangelische Christenheit bewegen, eignen sich in besonderer Weise dazu, die Aufmerksamkeit des deutschen evangelischen Volkes auf ein Werk zu richten, das sich die Aufgabe gestellt hat, an seinem Teil die Früchte der deutschen Reformation auch für das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Volksleben wirksam zu gestalten. Die in der Öffentlichkeit stehenden evangelischen Berufsarbeiter und Berufsarbeiterinnen der Gewerkschaften und konfessionellen Arbeiterbewegung hatten seit Jahren die sehr ernste Frage erwogen, was auf dem Gebiete der Wissensertüchtigung zwecks Heranziehung evangelischer Männer und Frauen für die evangelischen Teile der deutschen Arbeiter- und Angestelltenschaft seinerseits und den übrigen Volksständen andererseits wie auch den sozialen kirchlichen Strömungen herzustellen und fruchtreich zu gestalten sei, damit der aufbauende Gedanke evangelischen Christentums der Lebensfaktor unserer sozialen Bewegung werde. Die evangelischen Männer und Frauen, die in der flutenden sozialen Bewegung in Führerstellung standen, sahen neben dem äusseren Glanz und Aufstieg des deutschen Volkes doch auch die tiefer liegenden sittlichen und religiösen Nöte. Noch stärker als die Arbeiterfreunde aus den akademischen und besitzenden Schichten fühlten die aus dem Lohn- und Angestelltenstande hervorgegangenen Führer und Führerinnen diese Not, weil sie, inmitten der Bewegung stehend, aktive Glieder des handarbeitenden Volkes sind.

Die evangelischen Arbeiterführer und -führerinnen sahen aber eine stärker werdende Not als besonders dringlich an, nämlich den Mangel an ausreichend staatsbürgerlich, volkswirtschaftlich, sozial und kulturell geschulten evangelischen Männer und Frauen aus allen Ständen, die in der sozialen Bewegung ihrer jeweiligen Standesgenossen Vorbilder, Führer, Führerinnen, Vertrauenspersonen und Lehrer sein können. Sie sahen auch den ebenso schweren Schaden, der in den mittleren und akademischen Teilen unseres Volkes besteht, nämlich der brennende Mangel, der auch dort an Männern und Frauen vorhanden ist, die in genügender Weise die Triebkräfte der sozialen, insbesondere der Arbeiter und Arbeiterinnenbewegung, kennen und die als mitwirkende Freunde und tatkräftige Berater im Geiste der gewerkschaftlichen und konfessionellen Arbeiterbewegung tätig sein können.

Jede Bewegung ist das wert, was ihre Führer als sittliche und sach- und fachkundige Lehrer im Leben des Volkes bedeuten, und in jeder Bewegung, auch in der evangelischen Volks- und Standesbewegung, werden die Männer und Frauen die Führung haben, auf die diese Voraussetzungen zutreffen, und nur da, wo solche die Führung haben, kann die Bewegung ihr Ziel erreichen.

Die soziale Standesbewegung, die zur Zeit bereits Millionen und Abermillionen von Menschen organisationsmässig umfasst, wird immer mehr ein Faktor von höchster Bedeutung für das nationale und kulturelle Leben. Eine Bewegung erfordert nicht nur charaktervolle, kluge Führer und Führerinnen im Hauptamt, sondern auch Zehntausende von lokalen Führer und Führerinnen und Vertrauenspersonen, die, noch in der täglichen Werksarbeit stehend, auf die Mitglieder und deren Familien grossen Einfluss, ja oft stärkeren Einfluss ausüben, als die wissenschaftlichen, akademischen, pädagogischen und kirchlichen Personen.

Die deutsche Arbeiter- und Angestelltenversicherung organisiert durch Gesetz bereits über 30 Millionen Menschen, Sie gibt in ihren Verwalterkörperschaften und Versicherungsbehörden der Arbeiterschaft die Pflicht, durch Vertreter aus ihren Reihen mitzuverwalten und Recht zu sprechen. Hierzu sind wieder Zehntausende von Arbeitern erforderlich, die als Vorstandsmitglieder, Beisitzer bei den Versicherungsämtern, Oberversicherungsämtern und den zentralen Reichsämtern mitwirken müssen. Ferner müssen Tausende von Arbeitern in den Gewerbegerichten als Beisitzende und in vielen Fragen auch als Sachverständige mitwirken. Zu alledem kommt der Organismus der Angestelltenversicherung, der Kaufmannsgerichte. Durch den Krieg sind ferner die Schlichtungsstellen des Hilfdienstgesetzes, die Kriegsfürsorgeeinrichtungen, ferner die Lebensmittel- bezw. Kriegswirtschaftsämter, Berufsberatungsstellen, Kriegsbeschädigtenfürsorge- und Übergangswirtschaftseinrichtungen hinzugekommen, wozu wieder Tausende von Männern und Frauen vonnöte n sind, für die eine weitgehende Vorbildung zu der Erfüllung der ihnen obliegenden amtlichen Pflichten Voraussetzung ist.

Diejenige Bewegung nun, die in der Lage ist, die grösste Zahl zu solchen Ämtern fähiger Leute hervorzubringen und in Dienst zu stellen, gewinnt an Macht und Einfluss und Bedeutung. Verliert der evangelische Teil der deutschen Arbeiterbewegung hier den Einfluss durch Mangel an geeigneten Arbeitskräften und Persönlichkeiten, so verliert unser evangelisches Volk und damit der vaterländische, nationale und monarchische Gedanke immer mehr die Macht über unser Volk. Diese Erkenntnis hat die Sozialdemokratie und auch der katholische Volksteil frühzeitig erkannt und dementsprechend ein grosszügiges Kursus- und Ausbildungswesen mit allen dazu gehörigen Einrichtungen und Materialien geschaffen.

Das Bedürfnis, diesem Mangel abzuhelfen und die Voraussetzungen zu schaffen, dass auch das evangelische Volk, insbesondere der handarbeitende Teil desselben, hier in genügender Weise ausgerüstet sei, hat die evangelischen Arbeiterführer und Arbeiterführerinnen bewogen, die Evangelisch-soziale Schule in Bielefeld ins Leben zu rufen.

Der Zweck dieser Zeilen soll sein, alle evangelischen Männer und Frauen gleich welcher kirchlichen und politischen Partei aufzurufen, alles zu tun, um ihr die wirtschaftlichen Mittel zu reichen, damit die ihren Zweck entsprechend der Grösse der Aufgaben erfüllen kann.

Über ihre Arbeit und Aufgaben werden weitere Artikel folgen.

(Quelle: Archiv des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Erstellt am 22.11.97 - Letzte Änderung am 31.01.1998.
Winfried Hartwig
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