Im März 1911 erschien in den Kirchlich-sozialen Blättern folgender Jahresbericht:

Evangelisches Volksbureau Bremen,

errichtet von der Freien Kirchlich-sozialen Konferenz.

Jahresbericht 1910

von Emil Hartwig

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Das "Evangelische Volksbureau", christliches Arbeitersekretariat, erstattet hiermit seinen vierten Jahresbericht. Derselbe kommt leider, verursacht durch den Tod des bisherigen Sekretärs, etwas verspätet.

Die nationalen und christlichen Gedanken des Volkslebens haben auch im vergangenen Jahre einen starken Halt, ja eine nachdrückliche Förderung erfahren.

Die berechtigten Wünsche der Arbeiterschaft sowie ihre Sorgen und Nöte haben durch den Beamten des Sekretariats stets verständnisvolles Entgegenkommen und in Ansehung der verfügbaren Mittel auch nachdrückliche Förderung erfahren.

Wir lassen den Bericht in Monatsabschnitten mit erklärenden Zahlen folgen.

Im Januar 1910 wurde durch Vermittlung des Sekretariats die Aufmerksamkeit der Instanzen auf die Ausschaltung des nationalen Bedienungspersonals durch den sozialdemokratischen Gastwirtsgehilfenverband gelenkt und erreicht, daß in Zukunft auf nationalen Festen auch die national organisierten Arbeiter in erster Linie beschäftigt werden sollen.

Im Januar wurden Fuhrleute und Stallpersonal im Sinne bürgerlich-nationaler Organisationen beeinflußt. Auch begannen im Januar 1910 die Tarifverhandlungen im deutschen Baugewerbe und wurde der Sekretär als Vertreter der christlich-nationalen Bauarbeiter zu den örtlichen Verhandlungen von Anfang bis zu Ende zugezogen.

Im Februar nahm das Sekretariat Veranlassung in Verbindung mit den christlich nationalen Vereinigungen zum ersten Male den Versuch zu unternehmen, die Alleinherrschaft der sozialdemokratischen Gewerkschaften bei der Besetzung der Arbeitnehmerbeisitzerstellen beim Gewerbegericht zu bekämpfen. Unter seiner Leitung nahmen die christlichen Gewerkschaften Veranlassung, in einer Eingabe an Senat und Bürgerschaft die Einführung der Verhältniswahl zu beantragen. Diesem Beschluß hat sich der Senat bisher leider nicht angeschlossen.

Außer einem nachdrücklichen Versuch, auf die Silberarbeiter Einfluß zu gewinnen, wurde außerdem besonders unter den Eisenbahnoberbauarbeitern, Textilarbeitern und Schuhmachergehilfen für unsere Ideen mit gutem Erfolg gearbeitet. Die Tarifverhandlungen im Baugewerbe nahmen ihren Fortgang.

Im März griff der Sekretär energisch ein bei den Lohndifferenzen im Schneidergewerbe. Der sozialdemokratische Verband versuchte, die christlich organisierten Arbeiter durch Isolierung und Ansichreißen der Arbeitsvermittlung völlig zu verdrängen. Der Verband mußte sich zur Anerkennung der christlich organisierten Arbeiter bequemen und sie zu Verhandlungen hinzulassen. Diese Tatsache wurde vor dem Gewerbegericht protokollarisch niedergelegt.

Ferner wurde durch eine rege Agitation und Flugblattverbreitung der sozialdemokratischen Tätigkeit unter den Dienstboten entgegengewirkt.

Im April riefen die christlich organisierten Schuhmacher die Hilfe des Sekretariats an, damit in der durch den sozialdemokratischen Verband eingeleiteten Bewegung die christlich-nationalen Arbeiter nicht an die Wand gedrückt würden. Außerdem veranlaßten die Treibereien der sozialdemokratisch Organisierten das Sekretariat, in verschiedenen Betrieben die Stellung der christlich organisierten Gehilfen zu Geltung zu bringen. Der Sekretär ist erfreut feststellen zu können, für seine Wünsche seitens der Arbeitgeber fast stets bereitwilliges Entgegenkommen gefunden zu haben. Im April hat der Sekretär sich besonders auch in der Mäßigkeit- und Antialkoholbewegung betätigt.

Im Mai hat der Sekretär vorzugsweise unter den Oberbauarbeitern der Eisenbahnen gearbeitet. Es konnten mehrere neue Ortsvereine gegründet werden. Die Streikbewegung in Delmenhorst nahm ebenfalls die Aufmerksamkeit des Sekretariates in Anspruch. - In mehreren sozialdemokratischen, politischen Versammlungen trat der Sekretär den Ausführungen des Gegners entgegen. Auch in den evangelischen Jünglings- und Arbeitervereinen hat er nicht nur im Mai, sondern fortlaufend unter großem Beifall eine größere Anzahl Vor träge gehalten.

Im Juni hat das Sekretariat den Versuch gemacht, unter den Agenten der Versicherungs- und Abzahlungsbranche Boden für unsere Ideen zu gewinnen. Auch diese Arbeit war nicht ganz erfolglos. Auch in den Vereinen der Zivilmusiker wurde gearbeitet, um dieselbenüber das Verderbliche an der Arbeit des sozialdemokratischen Musikerverbandes aufzuklären.

Unter den Metallarbeitern wurde trotz größter Anfeindung der roten Agitatoren in Hemelingen und Hastedt eine Hausagitation ins Werk gesetzt. Gegen die politische Agitation der Sozialdemokratie wurde in 12 000 Exemplaren ein aufklärendes Flugblatt über die Leistungen der deutschen Arbeiterschutzgesetzgebung verbreitet.

In der zweiten Hälfte des Monats Juli wurde besonders unter den Hafen- und sonstigen ungelernten Arbeitern in unserem Sinne zu wirken gesucht. Etwa 6000 Flugblätter wurden unter denselben verteilt. Ein besonders energisches Eingreifen war notwendig gegen den häßlichen Terrorismus des sozialdemokratischen Holzarbeiterverbandes. Auf der Stuhlrohfabrik konnten wir nur durch gesondertes Verhandeln mit dem Inhaber die Anerkennung unserer Mitglieder, die seitdem in dem Betriebe an Mitgliedern bedeutend zunehmen, erreichen. Auch unter den Schmiedegesellen wurde nicht ohne Erfolg im Juli fleißig gearbeitet.

Im August war wieder ein scharfer Strauß mit dem sozialdemokratischen Holzarbeiterverbande, bezw. seinem Beamten Ahlemeyer auszufechten. Derselbe hatte das Stellmachergewerbe in einen Ausstand verwickelt, ohne die geringste Rücksicht auf unsere Mitglieder zu nehmen. Da sich der sozialdemokratische Beamte weigerte, mit dem christlichen Verbande zusammen eine Sitzung bezw. Eine Vereinbarung mit den Arbeitgebern zu treffen, so brach, da wir die Bewegung nicht zu Recht anerkennen konnten die Sache zusammen. Doch kamen unsere Mitglieder zu günstigen Bedingungen in Stellung. Infolge des Verhaltens des sozialdemokratischen Beamten wurde eine Anzahl sozialdemokratischer Gehilfen nicht wieder eingestellt.

Im September wurde zunächst durch Flugblattverteilung versucht, den Werftarbeitern in stärkerem Maße unsere christlich-nationale Stellung zur Arbeiterbewegung nahe zu bringen. Desgleichen wurde mit neuem Eifer unter den Silberprägearbeitern für unsere Bewegung geworben.

Im September erhielten wir auch zuerst Fühlung mit den Angestellten der Bremer Straßenbahn und konnten den Grund für spätere Erfolge legen. Desgleichen wurde mit dem Arbeitgeberverband im Schneidergewerbe behufs besserer Arbeitsvermittlung erneut Stellung genommen, da der sozialdemokratische Verband versuchte, den Arbeitsnachweis in seine Hände zu bekommen, was ihm nicht gelang.

Mit den Monat Oktober übernahm der inzwischen leider verstorbene Sekretär Wilhelm Hofsäß als Nachfolger des Sekretärs Emil Hartwig die Leitung des Sekretariates. An ihm hatte das "Evangelische Volksbureau" eine ausgezeichnete Arbeitskraft gewonnen. Herr Hofsäß widmete sich mit größtem Eifer der Durchführung der ihm gestellten Aufgaben. Er arbeitete im Oktober zunächst unter den Textilarbeitern und Metallarbeitern, soweit letztere auf den Werften beschäftigt sind.

Mit großem Geschick griff er sodann in die Bewegung der Straßenbahnangestellten ein, die leider unter Führung des roten Verbandes und trotz des Protestes der christlich gesonnenen Leute unter Kontraktbruch in den Streik traten. Der Ortsverein christlicher Straßenbahner ist seitdem ständig gewachsen und gehören demselben jetzt 70 Mitglieder an, wir hoffen, bald noch weiter zu kommen.

Auch ein Versuch, an die stark sozialistisch durchsetzten Arbeiter der Oelmühlen heranzukommen, war nicht erfolglos.

Herr Hofsäß hat im November eine umfangreiche Werbearbeit unter den Eisenbahnern entfaltet. Desgleichen wirkte er unter den Buchdruckern. Besonders unter den ersteren war die Arbeit sehr erfolgreich. Zum ersten Mal wurde versucht, für die konfirmierte Jugend eine christlich-nationale Organisation zu schaffen, um damit der sozialdemokratischen "Jungen Garde" ein gewerkschaftliches Gegengewicht zu liefern. Für die Metallarbeiter konnte eine Jugendgruppe gebildet werden, die heute etwa dreißig Mitglieder zählen wird.

Auch für den Reichsverband deutscher Kellner-Vereine wurde erneut vorgegangen.

Der Weihnachtsmonat war für Herrn Hofsäß überaus arbeitsreich. Der Evangelische Volksverein, der sich besonders die Weckung evangelischen Bewußtseins unter der Arbeiterschaft als Ziel gesetzt hat, stellte sich ganz unter seine Führung und hatte seine energische Arbeit auch einen erfreulichen Aufschwung der Mitgliederziffer und des Vereinsinteresses im Gefolge.

Im Dezember drohte in Magdeburg eine Streikbewegung unter den Angestellten der Straßenbahn auszubrechen. Christlich-national gesinnte Angestellte schrieben und erbaten die Hilfe des Sekretariates. Herr Hofsäß wurde auf einige Tage beurlaubt und hatte den Erfolg, eine Zahlstelle der christlichen Angestellten gründen zu können.

Da die terroristische Brotlosmachung vereinzelt arbeitender christlicher Arbeiter in Bremen immer mehr um sich griff, mußte Herr Hofsäß auch in dieser Sache viel Zeit und Mühe aufwenden, um erträgliche Zustände zu schaffen. Eine Anzahl schwerer Fälle wurden der Staatsanwaltschaft zur Anzeige gebracht.

Im Einzelnen seien noch folgende Zahlen zur Beurteilung der Tätigkeit des Sekretariates mitgeteilt. Die Postausgänge (Eingänge wurden nicht ermittelt) betrugen: Briefe 246, Postkarten 339, Pakete 37, Telegramme 23. Summa 645 Ausgänge. Dazu 2879 Drucksachen, ohne Zeitungen. Gesamt 3524 Stück.

Es sprachen auf dem Bureau vor um Rat in Rechts-, Organisations- und Arbeitsvermittelungsfragen: 1891 Personen. - Stellungen konnten an 309 Personen vermittelt werden.

Hausbesuche wurden zirka 450 ausgeführt durch den Sekretär.

Etwa 40000 Flugblätter wurden verbreitet. An Literatur, Broschüren, guten Schriften, Kalendern usw. Wurden zirka 3500 verkauft.

Versammlungen und Sitzungen wurden abgehalten in Bremen selbst: 283, auswärts 69, Summa: 352. Auswärts in 44 verschiedenen Orten.

Bemerkt sei, daß die Sozialdemokraten in vier Versammlungen die Versammlung durch Radau und andere Mittel zu sprengen versuchten, was ihnen in zweien gelang.

Vorträge wurden 142 gehalten über die verschiedensten kulturellen, volkswirtschaftlichen, sozialen sowie religiösen Fragen.

Eine große Arbeit lag dem Sekretär ob durch die Erteilung von Rechtsauskunft und Anfertigung von Schriftsätzen und Vertretung am Schiedsgericht für Arbeitsversicherung. - Im Jahreslaufe konnten für die verschiedenen christlich-nationalen Vereinigungen 500 - 600 neue Mitglieder gewonnen werden, davon über 300 allein in Bremen. Dieser Erfolg darf als ein nach Lage der Verhältnisse günstiger angesehen werden. Die wütende Gegnerschaft der sozialistischen Presse und Agitatoren gegen die Arbeit des Sekretärs beweist es ebenfalls, daß unsere Arbeit nicht ohne Wirkung ist.

Wir haben auch viel zu danken, allen, die durch ihre ideelle und finanzielle Unterstützung es möglich machten, dem nationalen Gedanken und dem sozialen Frieden die Bahn frei zu halten. Allen Arbeiterfreunden unter den Arbeitgebern, den Leitern und Vertrauensmännern der Vereine und Ortsgruppen, sowie den Geistlichen, ja allen, die uns mit Rat und Tat unterstützten, sagen wir verbindlichen Dank. Möge auch die Arbeitsfrist, die das neue Jahr bringt, unter Gottes Schutz neue Erfolge für unsere Sache bringen.

Quelle: Archiv, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V.

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Erstellt am 01.11.97 - Letzte Änderung am 31.01.1998.
Winfried Hartwig
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