Der Brief vom 20.7.1916 an Lic. Mumm weist auf, daß Hartwig die Förderung und adäquate Vertretung der christlichen Arbeiterschaft im öffentlichen Leben als seine Lebensaufgabe ansieht.

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Geschäftsstelle der Evangelisch-sozialen Schule E. V. Bielefeld, Gütersloherstr. 45, Fernruf 2478
Bielefeld, den 20. Juli 1916

Herrn Generalsekretär Pastor Lic. Mumm, M. d. R. Hochwürden
Berlin NW 87
Tile Wardenbergerstr. 28

Sehr geehrter und lieber Herr Licentiat !

Dass Sie in der gegenwärtigen Zeit nur sehr schwer abkommen können, verstehe ich durchaus, umsomehr, wenn ich meine Aufgaben mit den Ihrigen vergleiche, reicht doch auch für mich die Zeit, trotz der hinzugewonnenen Stunde Tageslicht nicht aus.

Kollege Behrens hat mich, in der Sorge, daß die Evangelisch-soziale Schule mich finanziell nicht länger tragen könne, beim "Vaterländischen Bauverein" empfohlen, der dann an mich herantrat und mir die Stellung anbot. Ein Entschluss wurde mir sehr schwer. Ich sah auf der einen Seite die Schwierigkeiten, die Evangelische Schule über die Kriegszeit hinweg zu helfen, wenn sie mit meinem Gehalt belastet blieb. Anderseits hatte ich das bestimmte Empfinden, dass eine rein-buchhalterische Bürotätigkeit, wie sie im "Vaterländischen Bauverein" notwendig ist, keine mich befriedigende Tätigkeit sei. Ebenso war ich mir nicht sicher ob ich diesen, rechnerisch, kaufmännischen Aufgaben gewachsen sei. Die Rücksicht auf meine Familie verlangt auch, dass meine Lebensbahn einmal ein Ziel hat. Inzwischen hat sich ja unsere Lage wieder etwas gebessert, so dass ich hoffe, dass sich mit Hilfe der Freunde der Evangelisch-sozialen Schule, unsere Geldverhältnisse wieder erfreulicher gestalten. Aus manchen ideellen inneren Gründen die ich für die Zukunft unserer Sache für sehr wichtig halte, möchte ich nicht gerne von diesem Platze scheiden. Bei der, wie ich hoffe, fast völligen Übereinstimmung die zwischen Ihnen und mir in der Auffassung über Politik und Volksbewegung bestehen, brauche ich dies wohl nicht näher zu begründen. Ich danke Ihnen aber herzlich für die freundliche Anteilnahme, die Sie an meinem Ergehen nehmen. Sollte ein Wechsel meiner Stellung in Frage kommen, indem vielleicht eine andere Persönlichkeit besser in der Lage wäre, die Evangelisch-soziale Schule zweck entsprechend zu betreuen, so würde ich am liebsten in den evangelischen Arbeitervereinen als Geschäftsführer irgend eines Provinzialverbandes tätig sein. Ich habe im Laufe der Jahre die feste Überzeugung gewonnen, dass der Sozialdemokratie nur erfolgreich Gegenwirkung in der Agitation gemacht werden kann, wenn in den evangelischen Arbeitervereinen eine zielbewusstere soziale Standesarbeit betrieben wird, besonders die innere Arbeit muss die Arbeiter mehr an die Vereine fesseln. (Ich denke noch an Hagen.) Geschieht das nicht, so wird sie stets wie heute den massgebenden Faktoren gegenüber das fünfte Rad am Wagen sein. Ebenso wird dann der Teil der christlichen Gewerkschaften völlig unbedeutend bleiben. Die christlichen Gewerkschaften werden aber nach dem Kriege ohne grössere evangelische Massen keine grössere ausschlaggebende Macht in unserem Volksleben mehr haben. Diese Massen können sie aber nur auf dem Weg über die Arbeitervereine erhalten. Die Hoffnung, dass eine Änderung in diesem Zustande eintreten werde, habe ich trotz allem nicht aufgegeben, und zwar gründet sich diese Hoffnung auf folgende Tatsachen.

In den Arbeitervereinen wird sicher allmählich eine straffere Zentralisation Platz greifen. In der Hauptsache wird die evangelische Kirche, in Sonderheit die Geistlichkeiten in starkem Masse sich neben der reinen Seelenpflege, und wohltätiger Missionspflege auf ihre Pflicht besinnen, den materiell schwachen Teil der Bevölkerung ein Anwalt zu sein, in seinen Forderungen sozialer Gerechtigkeit, auf Grundlage göttlicher, biblisch nachweisbarer sozialer Gebote.

In hervorragendem Masse wird dieser Erfolg eintreten, wenn erst die heranwachsende Pastorenschaft, wie sie hauptsächlich in der Theologischen Schule in Bethel studiert, ins Amt übergeht. Natürlich wird das ganz allmählich kommen. In starkem Masse beeinflusst wird dieser Vorgang, wenn in den Provinzialverbänden neben selbständig arbeitenden Geschäftsführer aus dem Arbeiterstande, auch junge, sozial volkswirtschaftlich geschulte Pfarrer hauptamtlich angestellt werden, die durch diese Schule hindurchgegangen sind.

Vielleicht können wir uns über diese Dinge in Partenkirchen noch näher unterhalten.

Bis zuletzt habe ich immer auf Ihre starke Mitwirkung gehofft und Ihren Einfluss und Ihre Tatkraft bei diesen Hoffnungen dabei in Rechnung gestellt.

Gerade aus diesen Gründen wünsche ich so sehnlich, dass Sie sich möglich stark auch an der Evangelisch-sozialen Schule beteiligen, deren Tätigkeit dann noch einen ungeahnten Aufschwung nehmen könnte. Hierüber mich ebenfalls mit Ihnen aussprechen zu können, ist mir ein starkes Bedürfnis.

Mit den herzlichen Grüssen

Ihr

E. Hartwig


Quelle: Archiv, Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e.V.

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Erstellt am 07.11.97 - Letzte Änderung am 31.01.1998.
Winfried Hartwig
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