Inhalt:
Politisierung der christlich-nationalen Arbeiterbewegung
Der Wunsch die politische Neutralität aufzugeben
Wahlen zum preußischen Landtag werden erwartet
Die Begründung des Wunsches nach einer nationalen Arbeiterpartei
Forderungen der evangelischen Arbeiterbewegung Nov. 1918

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- Emil Karl HARTWIG -


Aus Evangelisch-soziale Stimmen vom 31. Oktober 1918 (14. Jahrg., Nr. 10) S. 38:

Arbeiter und Politik

In den nationalen Arbeiterkreisen hat sich im Laufe des Krieges ein innerer Umdenkungsprozeß vollzogen, der für das politischen Leben von außerordentlicher Tragweite sein wird. Als Merkmale hierfür kamen vor der Umrangierung des deutschen Regierungssystems besonders in Betracht das öffentliche solidarische Auftreten der Zentrumsarbeiterführer auf Kongressen und Konferenzen sowie die Konflikte in der katholischen Arbeitervereinsbewegung zwischen kirchlicher Oberaufsicht und Vereinsleitung. Aber auch im evangelischen Teile der christlich-nationalen Arbeiterbewegung, sowohl der Gewerkschaften wie der Arbeitervereine, macht sich eine immer stärker werdende Politisierung der Bewegung auffällig bemerkbar. Auch in den evangelischen Arbeitervereinen tritt das Selbstbewußtsein und das Standesgefühl der Arbeiter als solcher immer kräftiger auf. Die Führung zur selbständigen Handhabung der politischen Arbeiterinteressen liegt nach dieser Seite in den Händen der evangelischen Führer der Gewerkschaftsbewegung. Diese Tatsache ist insofern bemerkenswert, als sie beweist, daß von einer zentrümlichen Beeinflussung der christlichen Gewerkschaften, soweit der evangelischen Teil in Frage kommt, nicht gesprochen werden kann. Im Gegenteil. Es tritt immer klarer zu Tage, daß auch die christlich-nationale Arbeiterbewegung als solche sich zu einer einheitlichen politischen Bewegung ausgestaltet.

Während vor dem Kriege die Bewegung mit größtem Nachdruck die parteipolitische Neutralität hochhielt, ist sie, nachdem sie während des Krieges sich ein neues Programm schuf, immer stärker mit der Absicht zu Tage getreten, auch die politischen Gesamtinteressen der Arbeiterbewegung führend zu beeinflussen.
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Diese Tatsache ist nicht nur für den Arbeiterstand selbst von weittragendster Bedeutung, sondern sie bedeutet auch eine politische Umänderung unseres politischen Parteilebens. Schon liegen die Anfänge klar zu Tage, die zur Bildung einer großen nationalen deutschen Arbeiterpartei führen können. Diese Vorgänge lassen den Schluß zu, daß die christlich-nationale Arbeiterbewegung mit vollem Bewußtsein den bisherigen Standpunkt der politischen Neutralität aufgibt. Damit schwindet ein Gegensatz im Kampf der Arbeiterorganisationen untereinander, der zum Schaden der Arbeiter, Angestellten und Beamten viel wertvolle Kraft absorbiert hat. Es bahnt sich ein Ausgleich der Gegensätze zwischen den beiden größten Arbeiterbewegungen, der sozialistischen und der christlich-nationalen, an, der, wie angenommen werden darf, zum ziffernmäßigen Vorteile für die christlich-nationale Arbeiterbewegung ausschlagen wird. Noch weniger als bisher wird dann die sozialistische Arbeiterbewegung sich als die deutsche Arbeiterbewegung bezeichnen können. In derselben Richtung bewegt sich ein an die Vertrauensmänner des nationalen Angestellten- und Arbeiterwahlausschusses gerichtetes Rundschreiben. Dasselbe geht von der preußischen Wahlrechtsfrage aus. Es weist darauf hin, daß mit einer alsbaldigen Neuwahl des preußischen Landtages zu rechnen ist. Der Aufruf, der von bekannten Führern der christlich-nationalen Arbeiterbewegung, unter andern von dem Abgeordneten Behrens, den Verbandsleitern Gutsche, Koch und Streiter, dem Generalsekretär Martin und den Geschäftsführern Hartwig und Scheck unterzeichnet ist, fährt dann fort:
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„Die Maisitzung unseres N. A. W. [ nationaler Angestellten- und Arbeiterwahlausschuß (wh)] hatte allen Vertrauensmännern zur Pflicht gemacht, in der Wahlrechtsfrage entschlossen auf die Seite der Regierung zu treten und mit allen Kräften für die Erwirkung des gleichen Wahlrechts zu arbeiten. Als hierzu geeignete Maßnahmen wurden empfohlen, das Vertrauensmänner-Netz zu vervollkommnen, insbesondere aber die Parteien und Abgeordneten, welche Gegner des gleichen Wahlrechts sind, wissen zu lassen, daß sie das Vertrauen der national gesinnten Arbeiterschaft ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit in dieser Frage nicht besitzen.

Um eine Vergewaltigung beträchtlicher Minderheiten unmöglich zu machen, ist die Verhältniswahl mit Nachdruck zu fordern.

Ferner wurde beschlossen, im Falle einer Auflösung des Abgeordnetenhauses die Arbeiterschaft aufzufordern, mit der Regierung zu gehen und ohne Parteirücksichten nur für die Wahlkandidaten zu stimmen, welche bindende Erklärungen für das gleiche Wahlrecht abgegeben haben und, sofern die Mitglieder wahlrechtsgegnerischer Parteien sind, sich verpflichten, sich in dieser Frage keinem Fraktionszwang zu unterwerfen.

Außerdem wurde beschlossen, in einer Anzahl Wahlkreise nationale Arbeiter-Kandidaten aufzustellen und die Wahlrechtsfreunde dieser Kreise aufzufordern, diese Kandidaturen zu unterstützen.

In Ausführung dieser Beschlüsse bitten wir die Vertrauensmänner, uns unverzüglich über den Stand der Dinge in ihrem Bezirk zu berichten.
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In dem Bericht sind besonders die Wahlkreise zu berücksichtigen, in denen nationale Arbeiter- oder Angestellten- oder Beamtenkanditaturen in Aussicht genommen sind.

Da nach den Beschlüssen unseres N. A. W. bindende Wahlabmachungen mit den politischen Parteien und den wirtschaftlichen Standesorganisationen nur im Einverständnis mit der Leitung des N. A. W. erfolgen sollen, so bitten wir die Vertrauensmänner, uns rechtzeitig von etwaigen Verhandlungen in Kenntnis zu setzen.“

Führende Kreise der evangelisch-nationalen Arbeiterbewegung haben sich lange Zeit mit der Hoffnung getragen, daß die großen bürgerlichen Parteien sich der modernen Zeitentwicklung und der von ihr gebotenen politischen Rechtsgleichheit der Arbeiterschaft nicht verschließen würden, und den Gedanken gehegt, daß innerhalb des Parteirahmens eine konsequente Vertretung auch der Arbeiterinteressen sich ermöglichen lassen würde. Diese Hoffnungen sind durch die Folgeerscheinungen des Krieges auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete anscheinend aufgegeben worden. Nicht zuletzt ist es die gegenüber allen großen politischen Forderungen der Arbeiterwelt eingenommene ablehnende oder laxe Haltung der bürgerlichen Parteien, die die oben skizzierte Entwicklung der Arbeiterbewegung in politischer Hinsicht stark gefördert hat. Nicht nur die Privatarbeiterschaft, sondern auch die Staatsarbeiter, -angestellten und -beamten sind von ähnlichen Bestrebungen und Bewegungen ergriffen. Auch hier zeigen sich bereits Ansätze zur Zerschneidung des Bandes, das deren Interessen bisher mit den politischen Parteien verband. So scheint sich ein vollständig neues politisches Leben anzubahnen.

Hartwig, Arbeitersekretär, Bielefeld



Aus Evangelisch-soziale Stimmen vom 30. November 1918 (14. Jahrg., Nr. 11) S. 44:

Forderungen

Die evangelische Arbeiterbewegung steht vor ernsten Entscheidungen.
Die Stunde verlangt:

  1. Baldmöglichste Aufhebung der kleineren und mittleren Verbände zu großen Gesamtverbänden;
  2. Umorganisierung der Vorstände zugunsten der Arbeitermitglieder;
  3. baldmöglichste Zusammenlegung der Verbandsblätter;
  4. ungesäumte Anstellung von Arbeitersekretären als Schriftleiter;
  5. ungesäumte Einführung eines einheitlichen Organisationsapparates und Beitragswesens für die gesamte Bewegung;
  6. Sitz und Stimme der Arbeitersekretäre in Vorstands- und Verwaltungsorganen;
  7. Wahl einer Kommission, bestehend aus evangelischen Arbeiterführern und Vertretern des Pfarrer- und Lehramts zur Vorbereitung und Veröffentlichung:
    1. eines Schul- und Kirchenprogramms unter besonderer Berücksichtigung des Arbeiterelements;
    2. eines wirtschaftssozialistischen Arbeiterprogramms;
    3. eines allgemeinen politischen Arbeitsplanes.

Arbeitersekretär E. Hartwig, Bielefeld

(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Politisierung der christlich-nationalen Arbeiterbewegung
Der Wunsch die politische Neutralität aufzugeben
Wahlen zum preußischen Landtag werden erwartet
Die Begründung des Wunsches nach einer nationalen Arbeiterpartei
Forderungen der evangelischen Arbeiterbewegung Nov. 1918
Erstellt am 16.02.98 - Letzte Änderung am 12.04.1998.
Winfried Hartwig
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