In den nationalen Arbeiterkreisen hat sich im Laufe des Krieges ein innerer Umdenkungsprozeß vollzogen, der für das politischen Leben von außerordentlicher Tragweite sein wird. Als Merkmale hierfür kamen vor der Umrangierung des deutschen Regierungssystems besonders in Betracht das öffentliche solidarische Auftreten der Zentrumsarbeiterführer auf Kongressen und Konferenzen sowie die Konflikte in der katholischen Arbeitervereinsbewegung zwischen kirchlicher Oberaufsicht und Vereinsleitung. Aber auch im evangelischen Teile der christlich-nationalen Arbeiterbewegung, sowohl der Gewerkschaften wie der Arbeitervereine, macht sich eine immer stärker werdende Politisierung der Bewegung auffällig bemerkbar. Auch in den evangelischen Arbeitervereinen tritt das Selbstbewußtsein und das Standesgefühl der Arbeiter als solcher immer kräftiger auf. Die Führung zur selbständigen Handhabung der politischen Arbeiterinteressen liegt nach dieser Seite in den Händen der evangelischen Führer der Gewerkschaftsbewegung. Diese Tatsache ist insofern bemerkenswert, als sie beweist, daß von einer zentrümlichen Beeinflussung der christlichen Gewerkschaften, soweit der evangelischen Teil in Frage kommt, nicht gesprochen werden kann. Im Gegenteil. Es tritt immer klarer zu Tage, daß auch die christlich-nationale Arbeiterbewegung als solche sich zu einer einheitlichen politischen Bewegung ausgestaltet.
Während vor dem Kriege die Bewegung mit größtem Nachdruck die parteipolitische Neutralität hochhielt, ist sie, nachdem sie während des Krieges sich ein neues Programm schuf, immer stärker mit der Absicht zu Tage getreten, auch die politischen Gesamtinteressen der Arbeiterbewegung führend zu beeinflussen. Um eine Vergewaltigung beträchtlicher Minderheiten unmöglich zu machen, ist die Verhältniswahl mit Nachdruck zu fordern. Ferner wurde beschlossen, im Falle einer Auflösung des Abgeordnetenhauses die Arbeiterschaft aufzufordern, mit der Regierung zu gehen und ohne Parteirücksichten nur für die Wahlkandidaten zu stimmen, welche bindende Erklärungen für das gleiche Wahlrecht abgegeben haben und, sofern die Mitglieder wahlrechtsgegnerischer Parteien sind, sich verpflichten, sich in dieser Frage keinem Fraktionszwang zu unterwerfen. Außerdem wurde beschlossen, in einer Anzahl Wahlkreise nationale Arbeiter-Kandidaten aufzustellen und die Wahlrechtsfreunde dieser Kreise aufzufordern, diese Kandidaturen zu unterstützen.
In Ausführung dieser Beschlüsse bitten wir die Vertrauensmänner, uns unverzüglich über den Stand der Dinge in ihrem Bezirk zu berichten. Da nach den Beschlüssen unseres N. A. W. bindende Wahlabmachungen mit den politischen Parteien und den wirtschaftlichen Standesorganisationen nur im Einverständnis mit der Leitung des N. A. W. erfolgen sollen, so bitten wir die Vertrauensmänner, uns rechtzeitig von etwaigen Verhandlungen in Kenntnis zu setzen. Führende Kreise der evangelisch-nationalen Arbeiterbewegung haben sich lange Zeit mit der Hoffnung getragen, daß die großen bürgerlichen Parteien sich der modernen Zeitentwicklung und der von ihr gebotenen politischen Rechtsgleichheit der Arbeiterschaft nicht verschließen würden, und den Gedanken gehegt, daß innerhalb des Parteirahmens eine konsequente Vertretung auch der Arbeiterinteressen sich ermöglichen lassen würde. Diese Hoffnungen sind durch die Folgeerscheinungen des Krieges auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete anscheinend aufgegeben worden. Nicht zuletzt ist es die gegenüber allen großen politischen Forderungen der Arbeiterwelt eingenommene ablehnende oder laxe Haltung der bürgerlichen Parteien, die die oben skizzierte Entwicklung der Arbeiterbewegung in politischer Hinsicht stark gefördert hat. Nicht nur die Privatarbeiterschaft, sondern auch die Staatsarbeiter, -angestellten und -beamten sind von ähnlichen Bestrebungen und Bewegungen ergriffen. Auch hier zeigen sich bereits Ansätze zur Zerschneidung des Bandes, das deren Interessen bisher mit den politischen Parteien verband. So scheint sich ein vollständig neues politisches Leben anzubahnen. Hartwig, Arbeitersekretär, Bielefeld
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Forderungen
Die evangelische Arbeiterbewegung steht vor ernsten Entscheidungen.
Die Stunde verlangt:
Arbeitersekretär E. Hartwig, Bielefeld
(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)