Aus der Broschüre: "Rechtauskunftstellen und Volksbureaus"
von Otto Rippel und Emil Hartwig. Berlin 1905

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Referat von Emil Hartwig

"Gesetzesunkunde schadet." - Wer empfände diesen alten Spruch bitterer als der deutsche Arbeiter? Eine stetig sich mehrende Fülle von sozialen Gesetzen und Verordnungen sind seit der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 erlassen worden. Aber wie wenig kennt der Arbeiter zumeist den Umfang und das Maß seiner Recht! Verbitterung ist oft genug die Folge solcher Unkenntnis. Es liegt durchaus im Interesse des Staates und des Reiches, daß seine Gesetze und Verordnungen den Beteiligten allgemein bekannt werden. Es liegt im Interesse eines jeden Freundes des sozialen Friedens und der Gerechtigkeit, daß jedem Arbeiter bald Klarheit gegeben werde, ob er im einzelnen Falle im Recht oder im Unrecht ist; eine unentschiedene Rechtsfrage verbittert stets das Gemüt. Wie oft ist mit einem guten Rechtsrat mehr gedient, als mit barem Gelde.

Aber wohin soll der Arbeiter sich wenden? Der Rechtsanwalt ist teuer und kennt meist nicht viel von den Arbeiterrechten. Der Winkelkonsultant nutzt oft genug nur den Arbeiter aus und rät zu langwierigen Prozessen, statt zu schneller Erledigung. Hier müssen die Arbeitersekretariate einsetzen. Erst Ende der Neunziger Jahre entstanden, haben sie sich mit großer Schnelligkeit verbreitet. Sie geben Rechtsauskunft und fertigen Schriftsätze bei Versicherungsstreitfällen (Krankheit, Unfall, Invalidität), Mietstreitigkeiten, Steuersachen,Vormundschaftssachen, Armensachen, Militärsachen, Arbeits- und Lohndifferenzen, Erbschaften usw.

Sie haben tausendfach dem Arbeiter zu seinem Rechte verholfen, ihn den Klauen eines gesetzwidrig handelnden Wucherers oder Abzahlungsgeschäftes entrissen, ihn vor aussichtslosen Prozessen bewahrt.

Aber die meisten seitherigen Arbeitersekretariate (38) stehen im Zusammenhang mit der sozialdemokratischen Partei; einzelne fördern den Austritt aus der Kirche, außerdem bestehen 30 auf katholischer Seite errichtete Volksbureaus, sechs von evangelischer Seite unterhaltene Rechtsauskunftstellen beim Reichsversicherungsamte und ein Arbeitersekretariat als Gemeindeanstalt in Kaiserslautern.

Es ist unzweifelhaft auf diesem Gebiet noch viel zu tun. Alle christlichen Gewerkschaften und viele christliche Vereine aller Art sagen ihren Mitgliedern Rechtsauskunft zu und haben deshalb das Bedürfnis nach dem Ausbau christlicher Auskunftsstellen.

Sie werden es in erster Linie sein, die für die Kostendeckung zu sorgen haben. Die gerechteste Verteilung ist ein fester Pfennigsatz pro Mitglied im Jahre. Dafür müssen alle Mitglieder in den Bureaustunden unentgeltliche Rechtsauskunft erhalten und Schriftsätze ihnen gegen niedrige Schreibgebühr geliefert werden. Von denjenigen Besuchern, die nicht das Mitgliedsbuch eines angeschlossenen Vereins vorzeigen können, könnte vielleicht eine Gebühr erhoben werden. Auch könnten an Private, an Vereine, Korporationen und Gemeinden Karten zu 50 Pfg. ausgegeben werden, auf die hin der Überbringer umsonst Rechtsauskunft erhält. Der Ausbau der Arbeiter-Sekretariates erfordert eine Verbindung mit Rechtsanwälten, die für den Anfang ihren Rat im Interesse der Sache gebührenfrei dem Sekretär gegeben werden und mit der Gewerbeinspektion, die schon um ihrer amtlichen Gebundenheit willen die Arbeitersekretariate nicht zu ersetzen vermag, während eine gegenseitige Förderung sehr wohl möglich ist. Für diejenigen Streitfälle, die in Berlin vor dem Reichsversicherungsamt entschieden werden, übernimmt das Sekretariat Berlin N 31, Versöhnungs(privat)-straße 1 die Vertretung.

Es ist zu erwarten, daß der Arbeiter dort, wo er gute Rechtsauskunft erhält, auch sein Interesse gewahrt sieht. Schon darum ist es von höchstem allgemeinen Interesse, daß christliche Arbeitersekretariate an allen größeren Industrieorten sich bilden.

Besuchsziffer bestehender Arbeitersekretariate: Altenburg 1901: 2171 Personen, Frankfurt a. M. 1900: 20.756 Personen, Halle a. S. 1900: 7304 Personen, 1901: 8339 Personen, Hamburg 1901: 8712 Personen, München 1901: 9281 Personen.


Jahresausgaben eines Arbeitersekretariates.
[hier nicht detailliert wiedergegeben]

A. Größerer Etat: 4000 Mark
B. Kleinerer Etat: 2500 Mark


Es folgt ein Jahresbericht der Christlichen Volksbureaus zu Berlin für das Jahr 1905 erstattet von den Sekretären Franz Behrens und Willy Bartelt.

(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Erstellt am 08.11.97 - Letzte Änderung am 31.01.1998.
Winfried Hartwig
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