Inhalt:
der „Rechtsabmarsch des Zentrums“
innerparteiliche Probleme des Zentrums nach der Reichstagswahl von 1920
Zentrumsabgeordnete behaupten, die evangelischen Arbeiter betreiben die Gründung einer christlichen Partei
Erwiederung
oder zeigt sich hier doch der Wunsch nach einer wahrhaft interkonfessionellen christlich-sozialen Partei?

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- Emil Karl HARTWIG -


Aus Evangelisch-soziale Stimmen vom 30. September 1920 (16. Jahrg., Nr. 9) S. 2:
(Bestellungen sind zu richten an Sekretär Hartwig, M. d. R. Bethel, Friedhofsweg 15.)

Eine „christlich-demokratische“ Arbeiterpartei.

Die Zentrumspresse und provinzielle Zentrumsversammlungen erörterten in letzter Zeit in auffallender Weise obiges Thema.

Die geschulte, insbesondere gewerkschaftlich organisierte katholische Arbeiter- und Angestelltenschaft ist durch den Rechtsabmarsch des Zentrums, der insbesondere durch den Ausfall der Reichstagswahlen deutlich geworden ist, mit Recht stark enttäuscht.

Die große Masse der hier in Frage kommenden Zentrumswählerschaft steht auf dem Boden der Ablösung der kapitalistischen Wirtschaftsform durch den Wirtschaftssozialismus - einer christlich orientierten Gemeinwirtschaft. Das Zentrum aber - wie alle bürgerlichen Parteien - hält fest an der Privatwirtschaft. In dem Sperren gegen die Forderung der Volksmehrheit sehen die katholischen Arbeiterwähler die Sabotage einer gesunden Überleitung der Privatwirtschaft in die Gemeinwirtschaft. Das trifft auch für den größten Teil der wirtschaftlich abhängigen Wählerschichten der übrigen bürgerlichen Parteien zu.
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Bei der letzten Reichstagswahl sind bedeutende, in der katholischen Arbeiterwelt und darüber hinaus geachtete katholische Arbeiterführer nicht wiedergewählt worden. Die Zahl der katholischen Arbeiterparlamentarier ist von 25 auf 11 gesunken. Es seien z. B. nur genannt: Joos, Gilding, Hagemann usw. In der Zentrumspartei und auch sonst wird zwar betont, dieser starke Rückgang der Arbeitermandate sei die Folge einer begrüßenswerten Selbstbescheidung gewesen. „Die Botschaft hör' ich wohl ....“ Man beachte zur Beurteilung der Vorgänge folgende Veränderungen in der sozialen Struktur der Zentrumsfraktion 1912, die in keiner anderen Partei gleich scharf waren. Arbeitervertreter (mit Handwerkern): 6, Nationalversammlung 1919: 30, Akademiker 1912: 61, 1919: 36. 1920 erfolgte dann der Sturz der Arbeitervertreter von 30 bezw. 25 auf 11, während ihre Zahl bei den Rechtsparteien sich, wenn auch nicht erheblich, doch erhöhte. Sie zählten 1912: 3, 1919: 7, 1920: 9 Vertreter.
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Hier liegen die Gründe, die in den katholischen Arbeiterkreisen die Forderung nach einer „christlich-demokratischen Arbeiterpartei“, „christlich-nationalen Volkspartei“, „christlich-sozialen Partei“, „Partei für christlichen Sozialismus“ in den Vordergrund treten ließen. Was der Gewerkschaftsführer und Stadtverordnete Sedelmeyer in Köln in der „Deutschen Arbeit“ aussprach, haben die katholischen Arbeiterführer in Hannover ebenso solche in Düsseldorf in die Tat umzusetzen versucht. Der Sturm, der sich in Zentrumskreisen, katholischen Arbeitervereinen, im katholischen Volksverein, Windhorstbund usw. erhob, wird den Wagemutigen klar gemacht haben, daß das Unternehmen, in die Souveränität des Zentrums einzugreifen, nicht nur guten Willen und gesunde Ideen voraussetzt, sondern auch schmerzhafte Opfer mancherlei Art verlangt, die selbst dann, wenn sie gewagt werden, im Blick auf die Masse noch kein Gelingen verbürgen; denn die Gegner ihres Wollens im katholischen Arbeiterlager sind einflußreich und im Bunde mit dem im Zentrum verankerten Willen der Erhaltung der Privatwirtschaft und, was schwerer wiegt, der Erhaltung einer einheitlichen, mächtigen, kampffähigen und -bereiten Partei zur Behauptung und Vervollständigung der öffentlichen Macht der katholischen Kirche, einer Partei, die eine Gleichberechtigung anderer Kirchen nur zugesteht, soweit deren Macht oder die Opportunität es gebietet. Welche Namen hier führen, ist allen christlichen Gewerkschaftlern klar. Einer derselben hat auf dem Provinzialparteitag des westfälischen Zentrums sich an der beabsichtigten Gründung der „christlich-demokratischen Arbeiterpartei“ nach dem Zentrumsorgan „Die Glocke“, Nr. 202 vom 4. Sept. 1920, Beilage, wie folgt geäußert:
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„Abgeordneter Brust entgegnete (einem Delegierten Weber-Lippstadt), daß der Gedanke an eine solche Parteigründung von allen maßgebenden Stellen abgelehnt werde. Die Hauptagitation werde von den evangelischen christlich organisierten Arbeitern betrieben, die sich in der Deutschnationalen Volkspartei und in der Deutschen Volkspartei erklärlicherweise nicht wohl fühlten. Die evangelischen Mitglieder der christlichen Gewerkschaften wünschen schon seit längerer Zeit die Vergebung von Mandaten der Zentrumspartei an evangelische Arbeiterführer. Dazu sei das Zentrum bereit, aber erst dann, nachdem sich evangelische Arbeiter in Massen dem Zentrum angeschlossen hätten..“

Diese Ausführungen des Abgeordneten August Brust, der vor Jahren aus einer amtlichen Stellung als Arbeiterführer ausschied, stellen die Dinge derart auf den Kopf, daß dagegen kein Wort der Abwehr scharf genug ist.

Es ist Herrn Brust nicht unbekannt, daß nicht nur obiger Parteitag, sondern eine ganze Reihe von Konferenzen katholischer Arbeiterführer öffentlichen und internen Charakters scharf die Forderung der christlich-nationalen Arbeiterpartei erhoben, daß sie in immer kürzeren Zeitabschnitten stattgefunden haben, daß damit aber evangelische Arbeiter und noch weniger evangelische Arbeiterführer nicht das mindeste zu tun haben.
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Zu allem Überfluß kommt jetzt gerade die Nachricht, daß sich in Würzburg eine „Christlich-soziale Partei (Partei für christlichen Sozialismus)“ gegründet hat, die von Katholiken in Szene gesetzt und zum Vorstand ausnahmslos Katholiken hat.

Ich fordere Herrn Abgeordneten Brust auf, für seine Behauptung: „Die evangelischen Mitglieder der christlichen Gewerkschaften wünschen schon seit längerer Zeit die Vergebung von Zentrumsmandaten an evangelischen Arbeiterführer“ den Beweis anzutreten. Ich darf für mich in Anspruch nehmen, einigermaßen über die politischen Vorgänge im evangelischen Arbeiterlager orientiert zu sein. Von 100 Prozent ihrer Mitglieder sind 99 1/2 Prozent bestimmt frei zu sprechen von der Beschuldigung, die der Abgeordnete Brust gegen sie erhebt.

Wenn die evangelischen Arbeiter, Arbeiterinnen und Angestellten sich z. B. in der Deutschnationalen Volkspartei nicht wohl fühlen, so sind die Zustände im Zentrum, besonders vom evangelisch-sozialen Standpunkt gesehen, wahrhaftig nicht danach angetan, christlich-sozial denkende evangelische Arbeiterführer zu veranlassen, sich etwa eines Mandates wegen ihm anzuschließen.
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Ist das Zentrum etwa weniger privatkapitalistisch als die Rechtsparteien? Keineswegs! Es ist auch in dieser Frage wie in vielen anderen nur opportunistischer. Das ist in den Augen evangelischer Arbeiter entschieden kein Vorzug. Setzen sich die katholischen Arbeiterführer etwa im Zentrum besser durch als in der Deutschnationalen Volkspartei? Wer das behauptet, kennt die Sachlage und die Vorgänge weder in den Parteiinstanzen noch in den Fraktionen. Wenn Herr Brust seine um den Privatkapitalismus usw. besorgten Parteigrößen beruhigen wollte, hätte es ihm besser angestanden, er hätte die gewaltige Abneigung zugegeben, die Massen von Zentrumsarbeitern, die sich „nicht wohl fühlen“, gegen ihre Partei hegen.

Was bei diesen von katholischer Seite herrührenden Parteigründungen der evangelischen Arbeiterwählerschaft zugemutet wird, geht aus dem Propagandamaterial der neuen „Würzburger Christlich-sozialen Partei“ hervor. In einem Anschreiben, das alles verdirbt, was evangelische Arbeiter und Angestellte aufgrund des Programms anziehen könnte, stehen u. a. folgende Sätze:

„Die Gewerkschaftsbewegung als solche bleibt aus dem Spiel. Volle Handlungsfreiheit ist vorhanden. Die Partei nimmt als selbständige Gruppe die Arbeitsgemeinschaft mit dem Zentrum auf, dadurch keine Zersplitterung, sondern eine Verbreiterung der christlich-politischen Basis. Das Zentrum als konservative Gruppe kann nach rechts herübergreifen, die christlich-soziale Partei greift nach links in das Lager der Sozialisten.“

Hier kommt klar zum Ausdruck, daß die neue Partei nur mit dem, nicht gegen das Zentrum arbeiten will; „denn“, so heißt es weiter, „Bruderkampf (gegenüber dem Zentrum) wird vermieden.“
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Zum Überfluß wird der ganzen Parteiempfehlung folgende Fußnote angehängt:

„Wir bemerken noch einmal, das Zentrum soll nicht zerschlagen werden, sondern wir bilden eine eigene Parteigruppe, die in Arbeitsgemeinschaft mit dem Zentrum hier konservativ und fortschrittlich einen christlichen Kulturblock bildet, dann aber in der Entwicklung das Zentrum umgestaltet. Praktisch wird das in die Erscheinung treten dadurch, daß die älteren Kollegen beim Zentrum bleiben, die jüngeren zu uns kommen und werbend zu den Sozialisten bezw. Protestanten hinübergreifen können.

Dies „bezw.“ als Gleichstellung der Protestanten und Sozialisten, die Wahl der Bezeichnung „Protestanten“ für die Evangelischen [erinnern] an so absolut katholischen Geist. Daraus geht deutlich hervor, daß die Würzburger Gründer die Imponderabilien nicht einmal ahnen, die evangelische Arbeiter, Arbeiterinnen und Angestellte bei der Gründung einer wahrhaft interkonfessionellen christlich-sozialen Partei in Rechnung zu stellen haben.
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Dies bayerische Unternehmen, das damit empfohlen wird, daß „der geistige Führer“ des Unternehmens ebenfalls in Würzburg daheim sei, ist für den evangelischen Teil der christlich-nationalen Arbeiter- und Angestelltenschaft ebensowenig annehmbar, wie das Untertauchen im Zentrum. Wenn der geistige Führer, dessen Name noch aufgespart wird, bereits vorhanden ist, so wird wohl auch ein organisatorischer Führer bereit gehalten werden. Sollte das vielleicht Herr Exminister Erzberger sein? Wenn schon, dann müssen auf beiden Seiten die Männer und Frauen Hand ans Werk legen, die die einigenden Eigenschaften für das Gelingen mitbringen. Bis dahin aber, ihr evangelischen Kollegen und Kolleginnen, ihr evangelischen Arbeiter und Angestellten, die ihr euch heute „politisch nicht wohl fühlt“, haltet in Treue und Vertrauen zu euern Führern und Führerinnen. An alle evangelischen Frauen und Männer aus dem intellektuellen Ständen, die sich mit den Arbeitern und Angestellten in christlich-sozialer Gesinnung eins wissen, richte ich die Bitte: „Bleibt auch ihr uns treu! Tretet in persönliche Verbindung mit dem Unterzeichneten und durch ihn mit dem großen Kreis evangelischer christlich-sozialer Arbeiterführer und -Führerinnen zu unermüdlicher Arbeit an der gesinnungsgemäßen Umgestaltung unseres parteipolitischen und damit unseres gesamten öffentlichen Lebens. Nicht der Name und die Form - der Geist macht lebendig.

Emil Hartwig, Arbeitersekretär, M. d. R.


(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Zentrumsabgeordnete behaupten, die evangelischen Arbeiter betreiben die Gründung einer christlichen Partei
Erwiederung
oder zeigt sich hier doch der Wunsch nach einer wahrhaft interkonfessionellen christlich-sozialen Partei?

Erstellt am 14.03.98 - Letzte Änderung am 14.04.1998.
Winfried Hartwig
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