Inhalt:
Strukturkrise der evangelischen Arbeitervereinsbewegung
die Ursache der Krise
der Arbeiter verlangt den Arbeiter als Führer
einflußlos hinsichtlich ihres Machtgehaltes auf die Arbeiterpolitik
die heutige Lage - 1922
es handelt sich nicht um Führeregoismus

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(Aus Evangelisch-soziale Stimmen vom Jan./Febr. 1922, 17. Jahrg., Heft 1/2, Seite 4)

Die evangelische Arbeiterstandes-Bewegung.

Von Emil Hartwig, Arbeitersekretär, M. d. R.

Die evangelische Arbeitervereinsbewegung befindet sich seit Jahren in unheilvoller innerer und äußerer Stagnation. Die Ursache dieser Tatsache ist bekannt, trotzdem erfolgten bisher keine Reformen.
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Die Ursache liegt klar zutage. Die Vereine nennen sich evangelische Arbeitervereine. Sie sind aber keine Arbeitervereine. Sie sind evangelische Gesinnungsvereine für Glieder aller Stände, die unter dem Namen „Arbeiterverein“ taktisch mehr für ihre gute Sache zu erreichen hofften, als wenn sie evangelische Bürger-, Volks- oder Gemeindevereine firmierten. Tatsächlich haben die Gründer auch in heißem Bemühen die Arbeitnehmerschaft vorweg sammeln, ihr religiös und sozial helfen wollen. Ihre Programme, ihre Arbeit, ihre Geschichte beweisen das. - Männer wie Bischof, Werth, Stöcker, Weber, ja auch Franken, nur um einige leuchtende zu nennen, werden nie vergessen werden. Ihre Wirksamkeit hat die Wurzeln gelegt und gepflegt für ein Erstarken evangelischen Standesbewußtseins, hat die soziale, volkswirtschaftliche und nationale Denkweise der Arbeiterschaft einzustellen gesucht auf die Sittenlehre des Evangeliums, auf evangelisch-soziale Ethik. Diese Taten sind groß, dagegen erscheinen die Fehler in der organisatorischen und sozialen Führung der Bewegung als klein.
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Je mehr aber die Bewegung wuchs, je mehr besonders aus der evangelischen Arbeiterschaft geschulte, religiös und kirchlich selbständig denkende Führer in den Vereinen heranreiften, trat das Bestreben zutage, daß auch auf diesem konfessionellen Gebiete, soweit die organisatorische und sozial-ideelle Leitung in Frage kommt, der Arbeiter den Arbeiter als Führer verlangt. Dieses Verlangen ist hundertfach, zunächst bescheiden, dann oft stürmisch zum Ausdruck gekommen.
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Der Verwirklichung dieses Bestrebens stand zunächst die Tatsache entgegen, daß Geistlichkeit und Lehrerschaft fast überall die Vereine ins Leben gerufen, sie in den schweren Anfangsjahren gehegt und ihnen Richtung und Inhalt gegeben haben. Ihr steht zweitens der vielfach unausgesprochene Grundsatz, daß auf diesem konfessionellen kirchlichen Vereinsgebiete der Pastor der „geborene“ Vorsitzende und Führer sei, entgegen. Drittens steht ihm die scheinbar unbestreitbare Doppeltatsache entgegen, daß die Zahl der zur selbständigen Leitung solcher Vereine vorhandenen fähigen Arbeiter und Arbeiterinnen viel zu gering sei und deshalb der Akademiker nicht entbehrt werden kann, und ferner das die Pflege des evangelischen Glaubenslebens, sowie der Kontakt mit der Kirche Schaden leiden würde. Viertens ist aber die Befürchtung vorhanden, daß die reinen Arbeitervereine Klassenpolitik in Gesinnung und Tat treiben würden.
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So stehen die Dinge und seit 10 Jahren geht nun der Kampf um die Geltung der einen oder anderen Anschauung in der Führung der Vereine. Dieser Kampf ist besonders im Westen im Rheinisch-Westfälischen Verband evangelischer Arbeitervereine immer sehr lebhaft gewesen. Diese Anschauungen sind die Grundlagen all der Konflikte gewesen, die seit Naumann und Quandt, seit Franken und Vorster sich in der Bewegung zutrugen. Sie haben die innere ideale Ausbreitungskraft gelähmt, ja zeitweise getötet. Wohl ist ziffernmäßig die Bewegung gewachsen, aber sie ist klein und einflußlos geblieben, wenn man sie in ein Verhältnis bringt, sowohl zur Ziffer der evangelischen Arbeiterschaft innerhalb der Vereine wie der evangelischen Arbeiterschaft überhaupt, besonders auch im Verhältnis zur organisatorisch konfessionell erfaßten katholischen Arbeiterschaft. Einflußlos ist sie auch geblieben hinsichtlich ihres Machtgehaltes auf die Arbeiterpolitik, wenn man diesen Einfluß in ein Verhältnis bringt zu der Geltung der katholischen, ja selbst der freidenkerisch organisierten Arbeiterschaft auf öffentlichen Gebieten. Es stände noch schlimmer in dieser Beziehung, wenn nicht die evangelischen Arbeiterführer und Führerinnen sich in der Evangelischen Sekretärvereinigung eine Plattform geschaffen hätten, von der aus sie bei der Durchsetzung von Forderungen und Wünschen der evangelischen Arbeiterbewegung auf verschiedenen Gebieten vorgehen können.
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Die Lage ist ja heute folgende: die evangelische Arbeiterbewegung besteht aus zwei Säulen. - Erstens den evangelischen Arbeitervereinen, zweitens dem evangelischen Teil der christlichen Gewerkschaften. Die evangelischen Arbeitervereine stehen heute noch fast überall unter deren Vorsitz und der Führung von Geistlichen, mindestens ist das in den Kreisvereinen, Landesverbänden fast durchweg der Fall. Als Führer dieser Vereine kann also kein Arbeitersekretär auftreten, er ist, wenn es hoch kommt, Bevollmächtigter und Vertreter des Vorsitzenden. Heute gilt aber bei der Kirche, bei den Behörden immer der Sachkundige, der aus dem Interessenkreise erwählte als Führer, der - in diesem Fall der Arbeitersekretär - auch in den sozial-ethischen Fragen zwar nicht Lehrer, aber eigener Sach- und Hausverwalter sein will.
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Es ist diese Mündigkeitserklärung als schnöder Undank bezeichnet worden. Solange - sagen die Pastoren - haben wir für auch gearbeitet, nun, da ihr das Handwerk versteht, werden wir ausgetrieben. Dieser Vorwurf ist nicht stichhaltig. Es kann darauf verwiesen werden, daß eine der Grundforderungen, die von den Mitgründern - eben den Pfarrern - für die Bewegung erhoben wurden, die staatliche, kulturelle und gesellschaftliche Gleichberechtigung der Arbeiter sei, und zwar, so fügten vorsichtig manche hinzu, je nach dem Reifegrade ist sie einzuräumen. Über den Grad der Reife kann man streiten, wer aber heute die Zeichen der Zeit versteht, der erkennt, daß es brennend hohe Zeit ist, dem auf evangelisch-sittlicher Weltanschauung stehenden Arbeiterführer den Vortritt zu lassen, wenn es sich darum handelt, seine Standesgenossen zu sammeln oder in den Kämpfen gegen gegnerisch eingestellte Standesbewegungen und Organisationen zu leiten. Solche Kämpfe werden im „Jahrhundert der Arbeiter“ auch unserer evangelischen Kirche nicht erspart bleiben.
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Es ist nicht richtig, das Führeregoismus irgendwie im Spiel sei. Nirgends sind etwa Prätendenten vorhanden. Nein, ein hohes Ideal nur treibt die evangelische Arbeiterschaft. Sie will Bataillone formieren, die sowohl Hand in Hand mit der Kirche, die heiligen Güter der Reformation verteidigen und ausbreiten helfen, wie mit der gesamten christlichen Arbeiterschaft den Kampf führen gegen den Atheismus in jeder Form, besonders in seinen zwei gefährlichen Formen, dem marxistischen Materialismus auf der einen Seite und dem seelenlosen von keiner christlich sittlichen Verantwortung beirrten Kapitalismus und Mammonismus. Ist es dieses Arbeitsziel nicht wert, daß evangelische Arbeiterführer und evangelische Pastoren Hand in Hand gehen? In keinem Vorstande, ob Verein, Kreis-, Provinzial- oder Landesverband, kann die evangelische Arbeitervereinsbewegung der Pfarrer entraten. Aber er ist in Zukunft nur Führer und Berater auf religiösem Gebiet. Auch soll die Abgrenzung als Arbeiterstandesbewegung nicht so eng aufzufassen sein, daß kein Laie oder Nichtarbeiter Mitglied werden könne. Nein alle evangelischen Christen sollen nach wie vor willkommen sein, aber in den Vereinen dürfen sie nicht Hemmschuhe freiheitlich-sozialer Entwicklungen werden, indem sie ihre Interessenauffassung derjenigen des Arbeiterstandes entgegensetzen, sie in den Vereinen propagieren, das aber wird den Leitern vieler Vereine, die Nichtarbeiter waren, vorgeworfen, daß sie mit Absicht oder unabsichtlich die Arbeitervereine als Standesvereine aktionsunfähig machten, weil die Gutachten und Meinungen von Nichtarbeitern als Willensäußerungen der evangelischen Arbeiterschaft galten, die, zwar gut gemeint, oft hinter der Entwicklung zurückblieben oder den Standesinteressen zuwider waren.
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Andererseits steht fest, daß im Arbeiterinteresse von den leitenden Nichtarbeitern auch Gewaltiges geleistet worden ist. Der Name D. Ludwig Weber - sein Bild hängt über meinem Schreibtisch - ist hier in Wille und Tat gleich groß.

Aber ihrer Leistung und Führung fehlte die ständisch wirkende Kraft des Mitreißens.

Die Seele der Bewegung war - und wird auch in Zukunft der religiöse Führer sein - Organisatoren und Leiter aber wird der evangelische Arbeiterstand für seine Bewegung in Zukunft selbst bestimmen, bestimmen aus befähigten Führern des eigenen Standes.

So wird, wie wir hoffen, nicht nur der Rheinisch-westfälische Verband auf der neuen Grundlage eine Arbeiter-Organisation werden, die da kämpft für ihren Stand, für ihr Volk und ihre Kirche, sondern auch der Gesamtverband.

Die Losung bleibt: Jesus Christus gestern und heute und derselbe in Ewigkeit. Also: Jesus Christus der Führer der Arbeiter!

(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Strukturkrise der evangelischen Arbeitervereinsbewegung
die Ursache der Krise
der Arbeiter verlangt den Arbeiter als Führer
einflußlos hinsichtlich ihres Machtgehaltes auf die Arbeiterpolitik
die heutige Lage - 1922
es handelt sich nicht um Führeregoismus

Erstellt am 25.05.98 - Letzte Änderung am 25.05.1998.
Winfried Hartwig
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