Aus der "BERLINER ILLUSTRIRTEN ZEITUNG" von 1896:

Kopf der BERLINER ILLUSTRIRTEN ZEITUNG


- Der Fall Brüsewitz -

A ehnlich wie zu Zeiten der Umsturzvorlage geht eine sich gegen ein Ziel richtende Bewegung durch das deutsche Volk, und wieder wie damals stellt sich Gotha an die Spitze dieser Bewegung. Männer aller Berufsstände haben einen Aufruf an das deutsche Volk erlassen und fordern darin zu einer Massenpetition an den Reichstag auf. Das Ziel ist diesmal der militärische Ehrbegriff, der nachgerade einen schneidenden Gegensatz zwischen Armee und Volk hervorgerufen hat. Der Aufruf stellt folgende Forderungen für die Petition auf: Aufrichtige und energische Durchführung des vom Reichstag einstimmig gefaßten Beschlusses betreffend die Beseitigung des Duellwesens; Aufhebung der Militärgerichtsbarkeit für alle nicht dienstlichen Vergehen, und schließt mit den kernigen Worten:

"Wer noch eine Spur von Bürgerstolz in sich fühlt, wer in der Gleichheit aller vor dem Gesetze und in der unverbrüchlichen Heilighaltung des Gesetzes durch alle die Grundpfeiler der staatlichen Ordnung sieht, wer endlich unser Vaterland vor der Gefahr behüten will, daß der in Tausenden kochende Ingrimm vielleicht einmal zum Verlassen der Bahnen friedlicher Entwicklung drängen könnte, der schließe sich uns an!"

Die unmittelbare Veranlassung zu dieser Bewegung und zu dem Gothaer Aufruf hat jener traurige Vorfall in Karlsruhe gegeben, dessen Einzelheiten allen unseren Lesern sicherlich durch die Tageszeitungen bekannt geworden und noch im Gedächtnis sind. Wir können uns damit begnügen, sie hier kurz zu rekapitulieren.

Im Cafe "Zum Tannhäuser" in Karlsruhe saß eines Abends der Premier-Leutnant im badischen Leib-Regiment Henning von Brüsewitz in Gesellschaft eines Kameraden. Im Vorbeigehen stieß versehentlich der mit einer Gesellschaft von Herren und Damen eintretende Techniker Siepmann an seinen, des Leutnants, Stuhl und lehnte es ab, sich umständlich zu entschuldigen. Der Leutnant wollte nunmehr mit dem Säbel auf ihn losgehen; aber der Wirt fiel ihm in den Arm. Brüsewitz steckte den Säbel wieder ein, indem er ausrief: "Ich bin in meiner Ehre tödlich verletzt, nun kann ich den Dienst quittieren!"

Er begab sich danach auf die Straße, kam aber wieder in den Hof des Hauses, in welchem bald darauf auch Siepmann erschien, um sich, auf Zureden des Wirtes, durch die Hinterpforte zu entfernen. Von Brüsewitz stellte ihn mit gezogener Waffe, und obwohl Siepmann, vor ihm flüchtend, rief, er wolle sich entschuldigen, stach der Premier-Leutnant ihn, möglichenfalls durch eine Armbewegung Siepmanns in die Meinung versetzt, als wolle dieser sich verteidigen und ihn schlagen, nieder. Der Tod Siepmanns erfolgte wenige Minuten darauf. Brüsewitz begab sich in das Lokal zurück und erzählte das Vorgefallene. Noch zwei Tage nach der Bluttat tat er Dienst.

- Der Premier-Leutnant von Brüsewitz -

Eine Darstellung des Regiments-Kommandos stellt den Vorfall im Lokal so dar, als wäre v. Brüsewitz durch Siepmann schwer provoziert worden, die Vorgänge im Hofe aber werden mit der ursprünglich in den Zeitungen enthaltenen Darstellung übereinstimmend geschildert. Tatsache ist also, daß ein wehrloser Mensch wegen eines unbedeutenden Renkontres mit einem Offizier von diesem über den Haufen gestochen worden ist, daß dieser meinen konnte, den Dienst quittieren zu müssen, wenn er den ihm vermeintlich oder wirklich angetanen "Schimpf" nicht blutig räche. Diese Meinung ist das Produkt jenes überreizten, unnatürlichen Ehrgefühls, das in unserem Offizierkorps großgezogen wird. Und gegen diesen Ehrbegriff, d.h. gegen das Uberreizte, Unnatürliche darin, richtet sich jene, durch das deutsche Volk gehende Bewegung. Wahrlich nicht gegen das Ehrgefühl an sich. Es wäre tief traurig, der Anfang vom Ende, wenn die Intaktheit unseres Offizierkorps nur auf diesem Ehrbegriff beruhte, der den einzelnen zwingt, den erstbesten mit dem Säbel niederzustoßen, wenn dieser ihn auf der Straße oder im Lokal versehentlich angestoßen, ohne sich dafür anders zu entschuldigen, als es unter gebildeten Menschen Sitte ist. Sicherlich gibt es Tausende und Tausende Offiziere in der deutschen Armee, ehrenhaft bis in das Mark ihrer Knochen, die aber doch bitter die Qual dieses auf ihnen lastenden Ehrbegriffes fühlen, die im Herzen mit denen sympathisieren, die jetzt gegen den Moloch zu Felde rücken. Wahrlich, nicht jene sind Feinde der Armee, die diese unhaltbaren Zustände bekämpfen, sondern vielmehr jene, die sie aufrechterhalten wollen. Unser Offizierkorps würde nichts an seinem Ansehen, nichts an innerem Halt verlieren, wenn die heut darin geltende Spezialehre durch Ausmerzung ihrer schlimmsten Härten dem Allgemeinbegriff "Ehre" nähergebracht würde; wenn es seine Angehörigen nicht zwingen würde, bei jeder geringfügigen Kleinigkeit zur Waffe zu greifen und, falls der einzelne es dennoch tun würde, ihn die volle Schwere des bürgerlichen Gesetzes träfe.

Und so hoffen wir denn, daß den maßgebenden Instanzen endlich die Augen darüber aufgehen mögen, wohin wir treiben würden, wenn der jetzt herrschende militärische Ehrbegriff für alle Ewigkeit sollte unantastbar bleiben, daß die Stimme des Volkes und seiner Vertreter endlich gehört werde!

 

(Quelle: Berliner Illustrirte Zeitung, 1896)


Erstellt am 28.09.99 - Letzte Änderung am 28.09.1999.
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