Inhalt:
Marxisten
Sozialisten
Konservative und Völkisch-Nationale
Arbeiter-Verbände und Gewerkschaften
Arbeitervereine
Zukunftssicht 1924

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Im Juli 1924, nach Krieg und Beendigung der großen Inflationszeit, skizziert der Abgeordnete Lindner (DNVP) in "Kirchlich-soziale Blätter" die Situation in der deutschen Arbeiterschaft:

Neuere Strömungen in der deutschen Arbeiterschaft.

In der deutschen Arbeiterschaft sieht es zurzeit aus, wie in einem aufgestörten Ameisenhaufen. Alles rennt durcheinander. Es will neues werden. Jeder merkt, so kann es nicht weitergehen. Welche neuen Richtungen sich aber herausbilden, welche neuen Ideen die Massen fesseln werden, das ist die große Frage, auf die die Reichstagswahl zwar eben eine Antwort gegeben hat, aber eine solche, die doch noch nicht völlig unmißverständlich erscheint.

Die marxistische Bewegung als Gesamterscheinung ist zweifellos in der Rückbildung begriffen. Das lehren die Wahlen sehr deutlich. Der Prozentsatz der Wählerstimmen, die für sämtliche marxistischen Parteien zusammen abgegeben wurden, entspricht dem, den die Sozialdemokratische Partei im Jahre 1903 alleine erreichte. Zwischen 1903 und dem Höhepunkt der Bewegung lag eine außerordentlich starke Zunahme, die restlos wieder verloren gegangen ist. Aber auch diese anteilmäßige Beteiligung der Stimmenzahl ergibt noch ein falsches Bild insofern, als heute große Zahlen von Beamten, Pöstchenjägern, Intellektuellen usw., die 1903 noch nicht sozialdemokratisch wählten, heute einen ganz erheblichen Prozentsatz ihrer Wähler ausmachen, so daß also die Zahl der reinen Arbeiterstimmen für die marxistischen Parteien noch wesentlich geringer ist wie im Jahre 1903, man kann also sagen, der Prozentsatz der Marxistischen Arbeiterschaft ist Seit der Jahrhundertwende nicht gewachsen.

Ein Vierteljahrhundert und kein Fortschritt.
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Dabei bestand damals eine einheitliche Sozialdemokratische Partei, heute eine "Sozialdemokratische Partei", eine kommunistische Partei, die von Moskau dirigiert wird, eine Unabhängige Sozialdemokratische Partei unter Liebknecht, die es allerdings nicht zu einem Reichstagsmandat hat bringen können, obgleich sie über eine Viertelmillionen Stimmen aufbrachte, ein sozialdemokratischer Bund Ledebour, der allerdings nur 26000 Stimmen erhielt, eine kommunistische Arbeiterpartei, die anscheinend keine eigenen Kandidaten aufgestellt hat, eine nationale Freiheitspartei kommunistisch-sozialistischen Einschlags (Höft), die es ungefähr auf 60000 Stimmen gebracht hat, kein Mandat erhält und ihre Stimmenzahl im Wesentlichen wohl dem irreführenden Namen verdankt. Wie groß die Unzufriedenheit im sozialistischen Lager aber ist, das geht daraus hervor, daß neben den schon genannten Parteigruppen sich noch weitere u. a. auch eine deutsche Arbeitnehmerpartei, im Wesentlichen aus Afabundsmitgliedern bestehend, aufgetan hat, die 36000 Stimmen erhielt und das geistreiche Programm aufstellte, das Gegenteil von dem zu tun, was die Arbeitgeberverbände tun. Man verlangte die Arbeitnehmer nicht als "Träger irgend einer Weltanschauung", sondern nur "als Arbeitnehmer". Eine rheinische Arbeitnehmerpartei hat offenbar keinen Erfolg erzielt. Es handelt sich um eine kommunistisch-separatistische Bewegung ohne große Zukunftsaussichten.
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Um Emil Unger und seinen "Deutschen Vorwärts" hat sich eine Gruppe von ehemaligen Sozialdemokraten zusammengeschlossen, die aber kaum größere Bedeutung erhalten wird. Arno Franke, August Winnig, Arthur Zickler spielen unter den Jungsozialisten eine bemerkenswerte Rolle und versuchen, die sozialistische Jugend in nationalem Sinne zu erziehen. Die Töne aus diesem Lager sind manchmal recht erfreulich, dafür ist freilich der zahlenmäßige Erfolg um so geringer. Auch die kommunistische Partei hat bereits in den Jungkommunisten eine besonders betonte aktivistisch-militärische Bewegung, die in der Bildung von Hundertschaften und in der systematischen militärischen Schulung eine wesentliche Vorbedingung für den politischen Endkampf sieht.

Gewerkschaftlich spielt auf der Linken der "Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund" die größte Rolle. Er hat zwar angeblich nur 1/3 seiner Mitglieder verloren, in Wirklichkeit dürften die Verluste erheblich größer sein. Immerhin bedeutet er in Verbindung mit dem Afa-Bund und dem Deutschen Beamtenbund doch einen nicht zu unterschätzenden Machtfaktor, wenn er auch finanziell heute sehr schwach dasteht und dadurch Positives für die Arbeiterschaft kaum mehr leisten kann. Außerdem sind die gewerkschaftsgegnerischen "Zellen"-bauer derart an der Arbeit, daß seine Aktionsfähigkeit ganz außerordentlich geschwächt wird. Zwar verlangen die Kommunisten von ihren Anhängern noch, daß sie in der Regel in den freien Gewerkschaften bleiben, aber, nur um so zersetzend zu wirken. Im übrigen sind die alten Anarchosozialisten Kater's als Syndikalisten besonders im Westen unseres Vaterlandes an der Arbeit. Sie treten auch unter dem Namen der verschiedenen Arbeiter-"Unionen" auf. Ihre Forderungen gehen im Wesentlichen daraufhin, alle Macht den Arbeiterräten zu erringen und durch Veranstaltung von Betriebsräte-Kongressen und durch selbständiges Vorgehen der Betriebsräte nicht nur die Gewerkschaftsarbeit zu zerschlagen, sondern auch die Sozialisierung herbeizuführen.
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Im bewußten Gegensatz zur marxistischen Arbeiterbewegung stehen zunächst einmal die Arbeitnehmerausschüsse, resp. Bünde der alten bürgerlichen Parteien, die mit Ausnahme vom Zentrum und vor allen Dingen vom Deutschnationalen Arbeiterbund ein recht bescheidenes, kaum mehr bemerktes Dasein führen. Dem Deutschnationalen Arbeiterbund unter Emil Hartwig sind ganz außerordentlich große Erfolge beschieden gewesen.

Daneben treten in den neuen sich völkisch nennenden Parteien Versuche, in erheblichem Maße Arbeiterscharen durch Betonung des völkischen Standpunktes von der Marxistischen Idee zu gewinnen, in die Erscheinung. Was unter dem Namen "Völkisch-Sozialer Block" oder "Deutsch-Völkische Freiheitspartei" oder "Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei" marschiert, ist, auch für den besten Kenner, ein kaum zu entwirrendes Gebilde von 20 bis 30 verschiedenen Richtungen, die alle den Arbeitern viel versprechen, die alle aber kaum den ernsten Willen haben, Praktisches zu leisten, denen dazu auch die Sachkenntnis völlig fehlt, und von denen zu befürchten ist, daß die Arbeiterscharen, die sie etwas von den Marxisten gewinnen, bei ihnen schnellstens eine ganz kolossale Enttäuschung erleben werden, um dadurch wahrscheinlich dann ins Lager der allerextremsten Kommunisten getrieben zu werden. Gewerkschaftlich geschulte Arbeiter sind in dieser Bewegung so gut wie nicht vorhanden, wohl Handlungsgehilfen. Die deutsch-völkischen Kampfgewerkschaften unter Fahrenhorst sind ein Gebilde, von dem man nicht weiß, was daraus werden kann, zurzeit sind sie noch bedeutungslos.
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Neben diesen mehr oder weniger parteipolitischen Gruppen haben die vereinigten vaterländischen Verbände, der Stahlhelm, der Jungdeutsche Orden, der Wehrwolf, in nicht unerheblichem Maße Arbeiterkreise an sich zu fesseln verstanden. Sie betonen den Gedanken der Volksgemeinschaft, betonen das Vaterländische, betonen auch das Völkische; es besteht aber die Gefahr, beim Stahlhelm ist sie bereits mehrfach akut geworden, daß sie die Funktionen der alten und unangenehmen gelben Gewerkschaften übernehmen.

Von den gewerkschaftlichen Organisationen nicht marxistischer Art besteht als älteste fort die liberal-demokratische, deren Arbeiteranhänger in den Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften, deren Angestelltenanhänger im G. D. A., deren Eisenbahner im Allgemeinen Eisenbahnerverband (Riedel) organisiert sind. Das ganze Gebilde nennt sich Gewerkschaftsring und gibt etwa ½ Millionen Mitglieder an.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund umfaßt den Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften, den Gesamtverband deutscher Angestelltengewerkschaften D. H. V., Eisenbahner und Staatsbediensteten (Stegerwald, Bechly, Behrens, Gutsche, Thiel). Daneben stehen die wirtschaftsfriedlichen Verbände Geisler'scher Art, die nach dem Kriege bereits mehrere Male ihren Namen geändert haben und augenblicklich "Nationalverband deutscher Berufsverbände" heißen. Die Bewegung stützt sich im Wesentlichen auf die Arbeitnehmergruppen des Pommerschen und Brandenburgischen Landbundes (Wolff, Giese). Seitdem die Handwerksgesellen unter Wischnöwski ausgeschieden und sich eine neue Spitzenorganisation geschaffen haben, gehört dem Nationalverband außer den Landarbeitern im Wesentlichen nur noch der Deutsche Arbeiterbund (Heß, Adams) an, der sich nunmehr unter Wilhelm Schmidt in einen "Reichsbund vaterländischer Arbeitervereine" umgewandelt hat. Dieser Reichsbund versucht es, Arbeitervereine in den einzelnen Betrieben aufzuziehen und predigt die Werksgemeinschaft. Zahlen kann er noch nicht angeben.
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Die Evangelischen Arbeitervereine sind durch die Inflationsperiode zum großen Teil völlig lahmgelegt worden. Es ist dringend notwendig, sie zu neuem Leben zu erwecken. Die Betonung der evangelischen Grundeinstellung ist in den letzten Jahren, sehr zum Schaden der Arbeiterschaft, stark vernachlässigt worden; es ist Aufgabe der Evangelischen hier einen besonders wichtigen Dienst an unserem Volk zu leisten. Die katholischen Arbeitervereine haben nach dem Kriege eine außerordentlich starke politische Linksentwicklung genommen und sind heute sehr stark marxistisch-pazifistisch eingestellt, werden daneben aber durch das kirchliche Band noch zusammengehalten. Mit der Zentrumspolitik sind sie nicht mehr alle einverstanden. Das beweisen die 124 626 Stimmen der christlich-sozialen Volksgemeinschaft, die aus den Erzbergerbünden hervorgegangen ist. Man kann freilich auch annehmen, daß die Gründung dieser sogenannten Volksgemeinschaft eine Rettungsaktion für das Zentrum sein soll, man will die Massen, die nach links abströmen, auffangen und zu gelegener Zeit dem Zentrum wieder zuführen.

Unter dem Namen "Reichsflagge schwarz-rot-gold" hat sich so etwas wie ein "Republikanischer Stahlhelm" aufgetan, auch ein demokratischer Frontkämpferbund und ein Bund jüdischer Frontsoldaten ist entstanden. Auf Arbeiterkreise werden sie allerdings kaum erhebliche Anziehungskraft ausüben.
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Im Westen unseres Vaterlandes sind verschiedene Ansätze zu evangelischen Gewerkschaften vorhanden, ebenso machen sich verschiedentlich Strömungen zu einer Wiederaufrichtung der christlich-sozialen Partei geltend. Die z. T. von D. Jäger in Bethel getragen werden. Einen Zusammenschluß der christlich-sozialen Elemente innerhalb und außerhalb der Deutschnationalen Volkspartei würde voraussichtlich für die Betonung des christlich-sozialen Moments im öffentlichen Leben von großer Bedeutung werden können.

Wie wird die Zukunft aussehen? Es ist anzunehmen, daß die Arbeitermassen auf der Linken weitere Enttäuschungen erleben werden, daß weitere Zersplitterung die Folge sein wird, daß dadurch die Ohnmacht um so größer wird. Es ist auch anzunehmen, daß durch die Niederlage der marxistischen Parteien bestimmte antisoziale Elemente Oberwasser zu bekommen versuchen und damit tatsächlich die Gefahr eines endgültigen marxistischen Sieges heraufbeschwören. Es wird also die Aufgabe der sozial gesinnten, nicht marxistischen Elemente sein, von christlich-sozialen Gesichtspunkten aus das Gewissen unserer Zeit zu bilden.
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Die völkische Bewegung ist heute außerordentlich zersplittert. Alle Erfahrungen der Vergangenheit lassen es nicht wahrscheinlich erscheinen, daß aus der Zersplitterung eine Einheit wird. Die Gefahr der Phrase ist groß. Durch Konzessionen nach links ist es gelungen, ganz marxistisch-kommunistisch eingestellte Elemente in die Bewegung hineinzuziehen. Es besteht die Gefahr, daß nicht die völkische Bewegung diese Marxisten erobert, sondern daß der Marxismus sich die völkische Idee aneignet und seine Wirtschaftstheorie unter völkischer Verbrämung in die Praxis umzusetzen versucht.

In den letzten Jahren ist die Gewerkschaftsarbeit zweifellos überschätzt worden. Man eilte von Tarifverhandlung zu Tarifverhandlung und hatte für Gesinnungspflege keine Zeit. Die Bewegung wird endgültig siegen, die auf die Gesinnungspflege den größten Wert legt, die christliche Ideen in die Arbeiterschaft hineinzutragen und die ihre Arbeit nach den ewigen Grundsätzen des Christentums einzustellen versucht. Dabei wird es notwendig sein, im Sinne Adolf Stöckers den völkischen Gedanken stark zu betonen, der Vorherrschaft des Judentums energisch entgegenzutreten, die Arbeit und den Arbeiter freizumachen, sowohl von den jüdisch-marxistischen, wie von den jüdisch-mammonistischen Fesseln.

Lindner M. d. R.

(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Erstellt am 16.11.97 - Letzte Änderung am 31.1.1998.
Winfried Hartwig
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