Inhalt:
Der Unterschied zu den Christlich-sozialen
Die gegenwärtige Periode
Der Beginn des christlich-sozialen Wirkens
Die christlichen Gewerkschaften
Der nach dem 9.Nov. 1918 geschriebene Teil des Textes
Unter dem Drucke des Weltkrieges
die soziale Republik wird am 9. Nov. ausgerufen

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Aus Evangelisch-soziale Stimmen vom 31. Oktober 1918 (14. Jahrg., Nr. 10) S. 38:

Der Sozialismus
VI
Die atheistisch-internationale Richtung des Sozialismus stellt aber nur einen Arm der gewaltigen sozialen Strömung dar, die seit sieben Jahrzehnten durch unser Volk hindurchflutete. Die zweite Richtung, die organisatorisch später in die Erscheinung getreten ist, die christliche, gleicht nicht dem reißenden Gebirgsstrom der auf wilden Wogen alles mit sich fortreißend, dahinströmt, sondern, gebändigt durch die Schranken der Ehrfurcht vor den Lebensmächten unseres Volkes, vor der Religion, der Monarchie und dem Staate, ist sie dem Nilstrom vergleichbar, der, das Land befruchtend, durch die Niederungen unseres Volkes segenspendend dahinrollt.

An den Quellpunkten dieser Richtung stehen die Namen Wichern, Viktor Huber und Keitler. Sie haben der neuen Bewegung Geist von ihrem Geiste eingeflößt und ihr die christliche und nationale Prägung gegeben. In der Frage der Weltanschauung besteht deshalb zwischen der marxistischen und der christlichen Richtung ein fundamentaler Unterschied, in der sozialen Anschauung dagegen nur ein gradueller. Die Stärke der christlich-sozialen Bewegung hat niemals in der theoretischen Durchbildung eines sozial fundamentierten Staats- oder Wirtschaftssystems bestanden, sondern in der praktischen Arbeit in Staat, Kirche und Gemeinde, im Interesse der werktätigen Bevölkerung unseres Volkes sah sie ihre Hauptaufgabe. Vor der praktischen Betätigung trat die Theorie völlig in den Hintergrund.

In den ersten Jahrzehnten der Entwicklung war das beherrschende Prinzip der Bewegung naturgemäß die praktische Selbsthilfe in der Form des genossenschaftlichen und organisatorischen Zusammenschlusses behufs Gründung von Wohlfahrtseinrichtungen und sozialen Hilfsinstituten, wie Krankenkassen, Sterbekassen u. dgl.
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Aus der Selbsthilfe erwuchs die Idee: Staatshilfe in Gestalt der Arbeiterschutzgebung und der sozialen Versicherung. Als praktisches Christentum ist von Bismarck die soziale Versicherungsgesetzgebung bezeichnet worden. Im besten Sinne des Wortes stellt sich also die Reformgesetzgebung als ein Ausdruck christlich-nationaler Staatsfürsorge dar. Indem nun die christlich-nationale Richtung diese Gesetzgebung von Anfang an mit allem Nachdruck gefördert hat, hat sie im höchsten Maße nicht nur fruchtbare Arbeit geleistet, sondern auch staatserhaltend gewirkt und die Volksmassen körperlich und geistig fähig gemacht, die Schattenseiten des Industrialismus zu überwinden.

Die gegenwärtige Periode charakterisiert sich als das Zeitalter der sozialen und politischen Gleichberechtigung des vierten Standes mit den historischen Klassen. Das ist der Sinn der Umwälzung, die wir jetzt erleben. Wenn dieser Umwälzungsprozeß sich bisher ohne revolutionäre Erschütterungen vollzogen hat, dann ist das in erster Linie der Einwirkung des Weltkrieges zuzuschreiben, der ja seinem Wesen nach die größte Revolution der Weltgeschichte überhaupt bedeutet.
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Den organisatorischen Niederschlag des christlich-sozialen Wirkens des sozialen Dreigestirns Kettler, Huber, Wichern haben wir in der ersten christlich-sozialen Bewegung Rheinlands und Westfalens in den 60er und 70er Jahren des verflossenen Jahrhunderts zu erblicken. Auf der Essener Tagung im Jahre 1870 sollen bereits 70 000 Mitglieder der christlich-sozialen Arbeiterbewegung vertreten gewesen sein. Diese hoffnungsvolle paritätische Bewegung fiel der Kulturkampfperiode leider zum Opfer. Nur kümmerliche Reste blieben erhalten und gaben den Grundstock ab für die konfessionellen Vereine, die sich seit Anfang des achten Jahrzehnts zu entwickeln begannen.

Die konfessionelle Standesbewegung, wie sie sich in der Form der katholischen und evangelischen Arbeitervereinsbewegung entwickelt hat, ist ihrer Natur nach christlich und sozial orientiert. Sie hat in der Vorkriegszeit die Verbindungslinie zwischen der Kirche und der Arbeiterwelt dargestellt, und unter den gänzlich veränderten Verhältnissen der Zukunft würde der konfessionellen Arbeiterbewegung wenn nicht alle Zeichen trügen, als religiöser, sozialer und nationaler Gesinnungsmacht ein wichtiger Hilfsdienst im Leben unseres Volkes beschieden sein.
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Im Gegensatz zur sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung entwickelten sich seit der Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts die christlichen Gewerkschaften. Der Druck der "freien Gewerkschaften" auf die noch religiös denkenden Arbeitermassen war mittlerweile unerträglich geworden. Die Gefahr, daß die einseitig orientierte sozialdemokratische Gewerkschaftsrichtung eine Monopolstellung im deutschen Gewerkschaftsleben erringen könnte und daß sie dann diese Alleinherrschaft in rücksichtsloser Weise im sozialdemokratischen Sinne ausnützen würde, war nicht von der Hand zu weisen. Deshalb war das Unternehmen, die christlich gesinnten Arbeitermassen zu organisieren, eine befreiende Tat. Auf dem Grund der christlichen Weltanschauung, auf dem Boden des nationalen Staates erwuchs im Laufe der nächsten Jahrzehnte die christlich-nationale Arbeiterbewegung, die sich im deutschen Arbeiterkongreß ihren Mittelpunkt schuf. Eine Armee von 1 1/2 Millionen christlich und national gesinnter Männer und Frauen zählt heute diese Bewegung, die naturgemäß nicht so einheitlich organisiert sein kann, wie die sozialdemokratische, die aber doch verstanden hat, die konfessionellen Gegensätze zu überbrücken und die Bahn für die Aufwärtsentwicklung der christlich und national gesinnten Arbeiter- und Angestelltenschichten im Sinne der Freiheit und Gleichberechtigung frei zu machen. Im Weltkriege hat die christlich-nationale Arbeiterbewegung die Probe auf ihre Existenzberechtigung glänzend bestanden, und die neue Zeit wird der kampferprobten Bewegung neue große Aufgaben im Dienste unseres Volkes stellen.

Generalsekr. Paul Rüffer, Berlin.

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Aus Evangelisch-soziale Stimmen vom 30. November 1918 (14. Jahrg., Nr. 11) S. 42:

Der Sozialismus VI
Der Sozialismus in seiner atheistisch-internationalen Form war in der Vorkriegszeit zum größten Problem in unserm Volke geworden. Die Frage war nur: "Wird das, was berechtigt an den sozialistischen Forderungen ist, auf dem Wege der friedlichen Umgestaltung oder auf demjenigen des gewaltsamen Umsturzes herbeigeführt werden?"

Zwei Richtungen rangen in der Sozialdemokratie seit den Februarerlassen von 1890 miteinander. Es gab so etwas wie ein Nord- und Süddeutschland innerhalb der Gesamtpartei. Seit der Jahrhundertwende arbeitete sich aber aus den unklaren Strömungen eine scharf umrissene Doppelrichtung heraus: der Revisionismus und der Radikalismus, der erstere unter v. Vollmars und Franks Führung, der letztere unter Leitung des sozialistischen Dreigestirns Bebel, Liebknecht und Singer. Bernstein, der heutige U. S. hatte durch seine literarische Arbeit dem revisionistischen Gedanken die Bahn gebrochen. Entschlossen zog der Revisionismus die Folgerung aus der wirtschaftlichen Entwicklung und versetzte damit der marxistischen Richtung die vernichtendsten Schläge. Es zeigte sich, daß die Versöhnungspolitik des Kaisers doch im Revisionismus nicht ohne Folgen geblieben war. Der Stern des Radikalismus war trotz des Kraftmeiertums blutrünstiger Worte doch im Versinken begriffen, und die glänzenden Bilder des Zukunftstaates verblaßten vor der frischen Farbe der Wirklichkeit.
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In dieser Lage brach die Katastrophe des Weltkrieges über das deutsche Volk herein. Die Internationale zerbrach! Unter der Wucht der Ereignisse stellte sich die Sozialdemokratie entschlossen auf den Boden des Vaterlandes und bewies damit die Wahrheit des Dichterwortes: "Immer schon haben wir eine Liebe zu dir gekannt; bloß wir haben sie nicht mit Namen genannt: Deutschland!" Aber auch vom Thron herab fiel das Versöhnungswort: "Ich kenne keine Parteien mehr; ich kenne nur noch Deutsche." Naumanns Formel: "Demokratie und Kaisertum" schien in der Verwirklichung begriffen zu sein.

Unter dem Drucke des Weltkrieges reiften die schon längst erhobenen Forderungen der Erfüllung entgegen. Schon seit der Jahrhundertwende waren im deutschen Volke die Bestrebungen auf eine Stärkung des parlamentarischen Einflusses im Reiche und auf eine Reform des preußischen Wahlrechtes sichtbar. Die Sozialdemokraten forderten seit 1903 die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts in Preußen. Kurz, was wir heute unter der Formel: Parlamentarisierung und Demokratisierung verstehen, war schon lange vor Ausbruch des Weltkrieges als politische Forderung in unserm Volke vorhanden.
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Es ist nicht so, als wenn diese Forderungen nur von wenigen radikalen und ehrgeizigen Strebern in die Masse des Volkes geworfen worden wären, im Gegenteil, die treibenden Ideen der Zeit stiegen aus dem Urgrunde des Volkslebens in die Höhe. Sie waren eine notwendige Folge der steigenden wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Bildung des deutschen Volkes. Die Umwälzung im Innern unseres Vaterlandes wäre auch ohne den Krieg früher oder später notwendig geworden. Die Frage ist nur, ob sich dann dieser Umwälzungsprozeß ohne schwere Erschütterungen des Staates vollzogen hätte, wenn die alten und die neuen Gewalten aufeinandergeplatzt wären.

Der Weltkrieg, diese größte aller Revolutionen, hat uns bei der Umwandlung des Obrigkeitsstaates in einen Volksstaat vor diesem Schicksal bewahrt.

Durch vier Erlasse des Kaisers ist die Umwandlung vollzogen worden. Der Ostererlaß von 1917 gab die Richtlinien der Reformen an, die beiden Wahlrechtserlasse bestimmten für Preußen die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechtes, und endlich der Septembererlaß von 1918 gab dem deutschen Volke die Volksregierung. Den Abschluß dieser gewaltigen Umwandlung brachte dann die Kundgebung des Kaisers vom 28. Oktober, in der sich der Monarch vorbehaltlos auf den Boden der gegebenen Tatsachen stellte.
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Niemand ahnte, daß dieser Erlaß zugleich auch den Abschluß der 500 jährigen Geschichte des Hauses der Hohenzollern darstellen würde. Mit unheimlicher Schnelligkeit vollzogen sich nun die Ereignisse.

Am 9. November ist die soziale Republik ausgerufen worden. Der Kaiser und die deutschen Bundesfürsten haben auf ihre Kronrechte verzichtet. Der Umsturz kam wie ein Dieb in der Nacht. In Kiel machten am Sonntag, den 3. November, Matrosen und Arbeiter gemeinsame Sache. Das Kieler Vorbild wirkte ansteckend. Am 8. November vollzog sich der Umsturz in Köln. Infolge dieser Vorgänge wurden im Hauptquartiere schwerwiegende Entschlüsse gefaßt. Am Sonnabend, den 9., erfolgte die Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen. Die Berliner Garnison ging zu den Aufständigen über, die Sozialdemokraten erklärten den Generalstreik. An der Front bildeten sich sofort, wie in vielen Garnisonen des Inlandes Soldatenräte. So brach der überreife Obrigkeitsstaat im Handumdrehen zusammen und hat der sozialen Republik Platz gemacht.

Die sozialistische Regierung stützt sich auf die Soldaten und Arbeiterräte als ihre Machtquelle. Die kommende Nationalversammlung wird zeigen, wie stark der Anhang der sozialistischen Regierung im deutschen Volke ist. Vorläufig gilt es aber, sich auf den Boden der gegebenen Tatsachen stellen und an der Freiheit, Ordnung und Gerechtigkeit mitzuarbeiten.

Paul Rüffer.


(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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Der nach dem 9.Nov. 1918 geschriebene Teil des Textes
Unter dem Drucke des Weltkrieges
die soziale Republik wird am 9. Nov. ausgerufen

Erstellt am 14.02.98 - Letzte Änderung am 14.02.1998.
Winfried Hartwig
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