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(Aus "Evangelisch-soziale Stimmen Jan./Febr. 1922, Seite 3-4.)

Die sozialpolitische Gesetzgebung in Deutschland
Vortragsdisposition von Alfred Grunz.

Die heutige Zeit krankt an einer Überschätzung des Sozialismus und an einer Unterschätzung der Sozialpolitik. Der Sozialismus will Großes, strebt nach den höchsten Menschheitszielen, die Sozialpolitik treibt nüchterne Kleinarbeit. Der Sozialismus will Höchstes und hat bis jetzt nichts erreicht. Die Sozialpolitik arbeitet sachlich mit kurz gesteckten Zielen und hat schon manches praktische Ergebnis für die Arbeiterschaft zu Tage gefördert.

Die Sozialpolitik ist ein Kind der Neuzeit, des 19. Jahrhunderts. Im Mittelalter kam sie im wesentlichen nicht in Frage, weil dort jeder Mensch in einer Gemeinschaft stand, die gegenseitige Hilfe ausübte.

Als das führende wirtschaftliche Land wurde England zunächst auch in der Sozialpolitik führend; aber nur auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes. Als im Laufe des 19. Jahrhunderts die wirtschaftliche Führung auf Deutschland überging, wurde Deutschland, insbesondere unter den Hohenzollern, auch sozialpolitisch führend. Wir müssen sechs Perioden in der Sozialpolitik unterscheiden und bei einer jeden Ursache, Veranlassung, Eigenart, Inhalt und Rückschlag.

1. Periode 1835 und ff.

Ursache: Die trostlose Lage der Arbeiterschaft in den ersten Zeiten des Kapitalismus.
Veranlassung: Militärische Berichte, daß die Industriegebiete infolge der Kinderarbeit in den Fabriken nicht mehr genügend taugliche Soldaten zu stellen vermochten.
Eigenart: Arbeiterschutz
Inhalt: Kinderschutzgesetz in Preußen 1839 (wird dann aufgenommen in die Reichsgewerbeordnung vom 21. 6. 1869).
1871 Haftpflichtgesetz.
1878 Novelle zur Gewerbeordnung (Frauenschutz und obligatorische Fabrik-Inspektion und Gewerbeaufsicht).
Rückschlag: Sozialistengesetz 1878.

2. Periode 1881 und ff.

Ursache: Die zwingende Notwendigkeit neben dem Arbeiterschutz auch durch andere Mittel dem Arbeiterstande zu helfen.
Veranlassung: Kaiserliche Botschaft vom 17. 11. 1881.
Eigenart: Arbeiterversicherung.
Inhalt: Krankenversicherungsgesetz vom 15. 6. 1883.
Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz vom 13. 6. 1883, in Kraft getreten am 1. 1. 1891.
Rückschlag: Stillstand

3. Periode 1889 - 1895.

Ursache: Es ergibt sich die Notwendigkeit, nicht nur für die Kranken und Schwachen, sondern auch für die gesunden Arbeiter zu sorgen.
Veranlassung: Zwei kaiserliche Erlasse vom Februar 1890.
Eigenart: 1. Anregung einer internationalen Regelung.
2. Ausbau der deutschen Gesetzgebung.
Inhalt: Gewerbegerichtsgesetz vom 6. 5. 1890, nicht unwesentlich geändert durch Gesetz vom 30. 6. 1901, das in der Fassung vom 29. 9. 1901 mit dem 1. 1. 1902 in Kraft trat.
Weiter das sogenannte Arbeiterschutzgesetz von 1891, in Wirklichkeit aber kein neues Gesetz, sondern eine Neufassung des 7. Titels der Reichsgewerbeordnung.
Rückschlag: 1895 Umsturzvorlage, führende Männer: Berlepsch und Bötticher.
1899 Zuchthausvorlage, Forderung von Schutz der Arbeitswilligen (Stumm).

4. Periode 1900 und ff.

Ursache: Notwendigkeit der Nachlese unter Posadowsky.
Eigenart: 1. Ausbau. 2. Vereinheitlichung.
Inhalt: Novellen vom 30. 6. 1900 zu dem Unfallversicherungsgesetz:
1. Das Unfallversicherungsgetetz für Land- und Forstwirtschaft.
2. Das Gewerbeunfallversicherungsgesetz.
3. Das Bauunfallversicherungsgesetz.
4. Das Seeunfallversicherungsgesetz, diesem vorausgestellt
5. das Abänderungsgesetz vom 30. 6. 1900, hinzu kommt
6. das Gesetz, betreffend Unfallfürsorge für Gefangene vom gleichen Datum.
Novelle zum Krankenversicherungsgesetz vom 30. 6. 1900 und 25. 5. 1900.
Gewerbeordnungsnovelle vom 30. 6. 1900.
Seemannsordnung vom 2. 6. 1902.
Kinderschutzgesetz vom 31. 1. 1903.
Kaufmannsgerichtsgesetz vom 16. 6. 1904.
Hausarbeitsgesetz vom 20. 2. 1911.
Versicherungsgesetz für Angestellte vom 19. 12. 1911.
Rückschlag: November 1906 Entwurf eines Gesetzes betreffend die gewerblichen Berufsvereine.
Bedrohung des Reichstagswahlrechts. Einrichtung der gelben Werkvereine. Kampfansage gegen die Sozialpolitik. Eintreten für Schutz der Arbeitswilligen seit 1912/13. Ruf nach Stillstand der Sozialpolitik, sogar von Regierungsseite.

5. Periode 1914 - 1918.

Ursache und Veranlassung: Der Weltkrieg.
Eigenart: 1. Hemmung und teilweise Aufhebung der sozialpolitischen Gesetzgebung, besonders auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes.
2. Ansätze zu neuer sozialer Rechtsbildung auf dem Gebiete der Arbeiterversicherung und des Arbeitsrechts.
Inhalt: Kriegswochenhilfe.
Hilfsdienstgesetz von 1916.
Abschaffung gewisser Sonderstrafbestimmungen, die das Koalitionsrecht berühren.
Rückschlag: erfolgte nicht, da die Entwicklungslinie durch die Revolution abgeschnitten wurde.

6. Periode seit 1818.

Ursache und Veranlassung: Die Revolution und die Beendigung des Krieges.
Eigenart: Sozialpolitische Gesetzgebung nicht auf Anregung von oben her, sondern dem Druck der Masse folgend.
Inangriffnahme neuer Arbeitsfelder, besonders auf dem Gebiete des Arbeitsrechts.
Ausdehnung der Sozialpolitik auf die Wirtschaftspolitik (keine durchgreifende Sozialpolitik ohne gesunde Finanzpolitik, keine gesunde Finanzpolitik ohne Wirtschaftspolitik).
Rückschlag: steht in Aussicht im Zusammenhang mit der drohenden Wirtschaftsreaktion. Bemerkenswert ist noch, daß im Verlaufe dieser Epoche der eine Gedanke des kaiserlichen Erlasses von 1890 seiner Verwirklichung entgegen zu gehen scheint, als einziges positives Ergebnis des Friedensvertrages von Versailles: Schaffung eines Weltarbeitsrechts. Ferner ist zu beachten, daß alles, was seit der Revolution auf sozialpolitischem Gebiete geschaffen ist,
1. fußt auf der sozialpolitischen Gesetzgebung der wilhelminischen Ära und auf der Benutzung des von ihr geschaffenen Apparates;
2. durch die wirtschaftlichen Folgen der Revolution in seiner Durchführbarkeit in Frage gestellt wird;
3. durch die Ohnmacht der Staatsgewalt bei der Durchsetzung ihrer Maßnahmen bedroht ist.

Die vergangene Epoche der Sozialpolitik, die heute noch den Charakter der wilhelminischen Ära trägt, bedeutet einen Glanzpunkt der deutschen Entwicklung. Sie wird beeinträchtigt in ihrer Bedeutung durch die Tatsache, daß die Sozialpolitik eine entsprechende Gesinnungsgrundlage der gesamten Politik nicht zur Seite trat. Wir hatten Sozialpolitik aber keine soziale Politik. Hinzu kommt, daß auf jede Epoche stärkeren sozialpolitischen Antriebs auf Bestreben bestimmter Unternehmergruppen ein Rückschlag folgte, oder zumindest ein Stillstand. Da aber die Sozialpolitik, wie schon gesagt, auf kurze Sicht arbeitet mit knapp gesteckten Zielen, lebt sie von dem ständigen Fortschritt in der Zielsetzung, bedeutet hier Stillstand - Rückschritt. Auf der anderen Seite jedoch ist festzuhalten, daß diese Rückschläge in der Regel "Vorlagen", Entwürfe blieben, während die sozialpolitische Gesetzgebung in ihrem Inhalt Tatsache wurde.

Es wird Aufgabe kommender Zeiten sein, auf der Grundlage des Geschaffenen weiter zu bauen, um in Zusammenarbeit mit seinen eigenen Organisationen dem Arbeiterstande zu seinem Recht zu verhelfen.

(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)
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Erstellt am 06.09.98 - Letzte Änderung am 6.9.1998.
Winfried Hartwig
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