Inhalt:
die Idee / Organisationsformen / zentrale Organisation / föderalistischer Charakter / konfessionelle Arbeiterbewegung / die Gewerkschaften / Schluß.

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(Aus "Evangelisch-soziale Stimmen Jan./Febr. 1922, Seite 6-7.)
(Hier handelt es sich um einen Vortrag aus dem Volkswirtschaftlichen Kursus der evangelisch-sozialen Schule
vom 16. Jan. bis 4. Febr. 1922)

Organisationstechnik der Arbeiterbewegung
Leitsätze von Otto Knebel, Verbandsgeschäftsführer.

1. Organisation ist Technik, Technik ist: "Ordnung, Aufbau, Zusammenhang, Planmäßigkeit, Mechanik, Methode, System" usw., also das Zwangsläufige, Gesetzmäßige in einer Sache im Gegenteil zur Willkür. Die Technik ist der den Sinnen wahrnehmbare Ausdruck jeden Geschehens. Die Technik herrscht im Reich des Wahrnehmbaren, sie ist die Organisation der Gedanken und der Materie. Die Technik ist nicht "geistige Idee", sie macht Ideen wahrnehmbar oder führt sie aus.

2. Die Arbeiterbewegung ist die Idee der Existenz- und Kampfsolidarität aller in Abhängigkeit als Arbeitnehmer von der Gütererzeugung und Bewegung lebenden Menschen, sie ist die Idee der sozialen Gemeinschaft. Die Organisation ist die wahrnehmbare Ordnung, in der sich diese Menschen zueinander stellen zur Verwirklichung dieser Idee, Organisation ist also technisches Mittel zum Zweck und Ziel.

3. Die Idee der Arbeiterbewegung ist im Ursprung eine Einheitsidee gewesen, in der Ausführung eine Vielheit von Ideen geworden. Eine Idee kann von vielen praktiziert werden. Die Menschen sind aber nicht eines Sinnes. Die Ausführung einer Idee durch viele führt zu Spaltungen der Einheitsidee, zu unterschiedlichen Formulierungen und unterschiedlichen Organisationsformen. Die Arbeiterbewegung ist daher weder ein einheitlicher Begriff, noch hat sie in der Organisationsform einen inhaltlichen technischen Ausdruck gefunden.
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4. Die Idee der sozialen Gemeinschaft ist durch den individualistischen Geist ihrer Praktizierer destruktiv entwickelt worden. Was menschlicher Geist zu Ideen formt, beginnt er im gleichen Augenblick zu zersetzen mangels einer von einem Geist ausgehenden konstruktiven Entwicklung. Die Tatsache des Kampfes zwischen den einzelnen Säulen der Arbeiterbewegung erklärt sich nur hierdurch. Die destruktive Auswirkung individualistischen menschlichen Geistes hat bald eine starke rekonstruktive Gegenwirkung ausgelöst, der im Zusammenschluß einander mehr oder weniger nahestehender Gruppen und Grüppchen sichtbar wurden. Dauernde Einheit der Idee bedingt Einheit der Organisation.

5. Die verschiedenen Organisationen als die technisch-sichtbare Ordnung der Arbeiterbewegung sind trotz der rekonstruktiven Entwicklung in ihren Formen nicht gleich. Zwei große Gegensätze sind vorhanden, um die sich zahlreiche Abweichungen gruppieren. Diese Gegensätze sind: Lokaler Zusammenschluß aller Arbeitnehmer eines Ortes unabhängig vom Beruf (Syndikalisten) und zentrale Erfassung aller Arbeitnehmer nach Berufen oder Industrien (Gewerkschaften). Lokalverbände (Syndikalisten) bedeuten die Loslösung des einzelnen vom Beruf, Verneinung der Berufssolidarität im wesentlichen und Gewerbesolidarität schlechthin und sind in Tendenz und Wirkung kommunistisch-anarchistisch. Zentralverbände setzen die Berufssolidarität voraus (unbeschadet von Unterdrückungskämpfen einer Richtung gegen die andere) und stellen sich zur Gewerbesolidarität bejahend oder verneinend (Klassenkampf), je nach der Formulierung der Idee der Arbeiterbewegung.
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6. Lokalverbände beschränken sich auf zentralen Meinungsaustausch durch Delegierte auf gelegentlichen freien Tagungen (Ursprung des Rätegedankens), Zentralberufsverbände bilden Dachorganisationen (Rekonstruktive) in Form von Gesamtverbänden, Generalkommissionen etc. zur Wiederherstellung weitgehender Einheit der Idee der Arbeiterbewegung. Die Organisationstechnik war das Mittel zur Beseitigung vieler Abirrungen des menschlichen Geistes von der Einheitsidee.

7. Die Zentralverbände, Gewerkschaften aller Richtungen sind im wesentlichen gleichartig aufgebaut, Ortsvereine, Bezirksverbände oder Gaue und Zentralstellen. Die Dachorganisationen sind örtlich und bezirklich durch Zusammenfassung der örtlichen und bezirklichen Organe mit gleichem Unterbau versehen.

8. Gewerkschaften sind Demokratien. Die Führer werden gewählt. Während der Wahlperiode sind die Führer durchaus selbständig. Alle Versuche mit Überwachungsausschüssen sind gescheitert. Völlige Verantwortung ausschließlich gegen die Wahlkörper und völlige Selbständigkeit sind gepaart. Führer müssen gegen den Strom schwimmen können. Sie sind im Besitz größerer Sachkenntnis und Einsicht. Sie können nicht immer alles zur Begründung ihrer Maßnahmen sagen, was sie wissen. Sie müssen dennoch Gefolgschaft verlangen. Selbstlose Führer sind ein Segen, selbstsüchtige Führer eine Gefahr.
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9. Bestand und Entwicklung einer Bewegung ist abhängig von der Qualität der Organisation. Große Geister können eine Massenbewegung ohne die Mittel konstruktiver und mechanisch disziplinierender Organisationstechnik nicht halten. Eine technisch gut organisierte Bewegung verträgt viel leichter eine zeitweise minderwertige Führung!

10. Der Grad der Pünktlichkeit, mit der die Beiträge erhoben und die Zeitungen überbracht werden, ist der Qualitätsmesser für die Organisation. Er bestimmt den Grad der Abnahme und Zunahme des Mitgliederbestandes und den Grad der Disziplinierung der Mitglieder. Vertrauensmännerapparat und der Stab der Ortsvereinskassierer sind der die Qualität der Organisation entscheidende Unterbau. Hier ist die Technik primär, die Idee (Gesinnung) sekundär. Die Technik der Beitragserhebung ist verschieden, dieselbe erfolgt vornehmlich nach dem Markensystem, in geringerem Umfange nach Hebelisten oder gegen besondere Quittungen. Die Einholung in den Wohnungen ist fast allgemein und erfahrungsgemäß von bester Wirkung.

11. Die Bezirksverbände oder Gaue sind Zweckeinrichtungen zur Unterstützung der Zentrale bei Aufbau und Verwaltung der unteren Organe. sie sind vornehmlich Träger der Agitation und er Interessenkämpfe. Je nach der Größe der Bewegung sind diese Posten hauptamtlich besetzt, die ausnahmsweise von bezirklichen Organen gewählt, in der Regel dagegen von den Zentralvorständen angestellt werden.
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12. Der Grundzug der Verfassung zentraler Organisationen ist die fachliche und disziplinäre Unterstellung aller Organe ehrenamtlicher wie nebenamtlicher und hauptamtlicher Natur unter die Zentralstellen. Wo örtliche oder bezirkliche Organe der Zentralstelle über den Kopf wachsen, ist dieses stets auf einen Mangel an Fähigkeit und Energie in der Zentralleitung zurückzuführen, weil formal das Recht dazu nicht besteht.

13. Die Verfassung aller Zentralorganisationen ist im Eigentumsbegriff fast völlig gleichartig durchgebildet. Nur die Zentralorganisation als solche hat Eigentum, verwaltet von der Zentralstelle und zu deren Verfügung stehend. Alle nachgeordneten Organe können nur mitverwalten. Auch die Beitragsanteile der Ortsvereine und Bezirke nebst lokalen und bezirklichen Zuschlägen sind Verbandseigentum, unbeschadet der Bestreitung örtlicher und bezirklicher Ausgaben. Die zentrale Beitragsfestsetzung, Verwaltung und das Verfügungsrecht der Zentrale über alle Vermögenswerte ist von entscheidendem Wert für die Verfassung und Disziplin. Die Verfassung aller Zentralverbände kennt nur den Austritt einzelner Mitglieder unter Verlust aller Rechte.
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14. Neben den zentralen Berufsverbänden mit rein unitärischem Charakter sind eine ganze Reihe an sich zentraler Organisationen mit mehr oder weniger föderalistischem Charakter innerhalb der Arbeiterbewegung vorhanden. Die konfessionellen Arbeitervereine, die sich auf die Verfolgung idealistischer sozialer Ziele aus der Gesamtidee der Arbeiterbewegung beschränken, sind durchaus föderalistisch. Dem Aufbau liegt keine zwangsmäßige Organisationsordnung zugrunde, weder in der Frage der zusammenfassenden Personen, noch dem Aufbau der Organe. Die Zentralstellen haben nur das Mittel des Ausschlusses ganzer Organisationen bei Verletzung der Gesinnungsgrundlage.

15. In der konfessionellen Arbeiterbewegung ist jedes Organ selbständig und kann austreten unter Mitnahme seines ganzen Vermögens. Jedes Organ hat Beitragshoheit. Die unteren Organe zahlen den höheren Organen nur Kopfbeiträge. Aus der Idee der Arbeitervereine folgert die Werbekraft, während Unterstützungseinrichtungen, oft sehr schwach fundiert, vornehmlich die Bindung der Mitglieder bewirken, besonders dort, wo die Zusammensetzung der Mitgliedschaft gute Standesarbeit nicht aufkommen läßt. Gemeinsame Verbandsorgane und Unterstützungseinrichtungen sind Zweckmäßigkeiten und heben den föderalistischen Grundsatz der konfessionellen Arbeiterbewegung nicht auf.
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16. Die katholischen Arbeitervereine sind von unten nach oben in Kreisverbände und Diözesenverbände als Unterorgane der vier Landesverbände als den eigentlichen Trägern der Zentralorganisation zusammengefaßt. Als Dachorganisation dient ein Kartell dieser vier Verbände.

17. Die evangelischen Arbeitervereine sind in Kreisverbänden als Unterorgane der ca. 30 Provinzial- oder Landesverbänden als den eigentlichen Trägern der Zentralorganisation und im Gesamtverband als Dachorganisation zusammengefaßt.

18. Ein wesentlicher Unterschied besteht also darin, daß die zentrale Organisationsarbeit der katholischen Arbeitervereine bei den vier großen Verbänden: Süddeutscher Verband, Westdeutscher Verband, Berliner Verband und Ostdeutscher Verband liegt, während sie sich bei den evangelischen Arbeitervereinen in den zirka 30 Provinzial- und Landesverbänden abspielt. Die katholischen Arbeitervereine haben im Unterbau dagegen ein Organ mehr. Die beiden Dachorganisationen sind in ihrer organisatorischen Bedeutung ungefähr gleich. Die katholischen Arbeitervereine haben dadurch einen unzweifelhaften organisatorischen Ursprung.

19. Aus der Rekonstruktion der Arbeiterbewegung sind bis zum Ausbruch der Revolution die freien Gewerkschaften, Hirsch-Dunkerschen Gewerkschaften und christlichen Gewerkschaften als Richtungen hervorgegangen mit zentralistisch gleichartigen Aufbau und Dachorganisationen, zwischen denen allerlei Splitter einhervegitierten. Neben den christlichen Gewerkschaften standen die konfessionellen Arbeitervereine als mehr oder weniger zuverlässige Verbündete. Die Schaffung des deutschen Arbeiterkongresses mit dem Zweck, alle gleichgesinnten Kräfte in der Arbeiterbewegung demonstrativ und repräsentativ zusammenzufassen, beendete die Rekonstruktion im christlich-nationalen Teil der Arbeiterbewegung.
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20. Die Revolution brachte eine radikale Umwälzung. Der deutsche Arbeitskongreß verschwand sang- und klanglos. der deutsche Beamtenbund, der Gewerkschaftsring, die Afa und der deutsche Gewerkschaftsbund entstanden neu, die Generalkommission der freien Gewerkschaften wurde in den allgemeinen deutschen Gewerkschaftsbund umgewandelt. Letztere und die Afa kartellieren sich. Der deutsche Beamtenbund strebt dem gleichen Ziele zu. Der deutsche Gewerkschaftsbund besteht aus den drei Säulen: Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften, Gesamtverband der Privatangestellten Gewerkschaften und Gesamtverband der Beamten- und Staatsangestellten Gewerkschaften. Es ist deutlich erkennbar, daß diese Dreiteilung unserer Dachorganisation bei allen Richtungen angestrebt wird. Nach der Durchführung ist die Organisationsform der Arbeiterbewegung für lange Zeit festgelegt. Für die konfessionellen Arbeitervereine ist eine neue Verbindung mit den bisher im deutschen Arbeiterkongreß mit ihnen zusammengefaßt gewesene christlich-nationalen Gewerkschaften noch nicht hergestellt.

Schluß: Das Gesetz der großen Zahl gibt der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung eine ungeheure Bindung und Anziehungskraft. Unsere Minderheitsbewegung muß mit den Mitteln ausgesuchtester Organisationstechnik den Ausgleich herstellen. Die Zeit der ersten Liebe ist vorbei, wenige Führer nur sind noch vorhanden, die die Sturm- und Drangzeit der ersten 10 Jahre erlebt haben. Ein neuer Geist ist heraufgezogen, Krieg und Revolution sind mit schuld daran, in dem der rein idealistische Kampf- und Siegerwille kaum noch zu finden ist. Umsomehr tut es not mit den Mitteln der Technik eine bis in den letzten Winkel reichende tadellos arbeitende Organisation zu schaffen, die in sich geschlossen allen Stürmen zum Trotz eine starke Entwicklung nehmen kann.

(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)


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die Idee / Organisationsformen / zentrale Organisation / föderalistischer Charakter / konfessionelle Arbeiterbewegung / die Gewerkschaften / Schluß.
Erstellt am 06.09.98 - Letzte Änderung am 6.9.1998.
Winfried Hartwig

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