Aus Evangelisch-soziale Stimmen vom 30. November 1918 (14. Jahrg., Nr. 11) S. 42:
Von Wilhelm Gutsche.
Der Weltkrieg ist Weltrevolution. Vorerst in der Hauptsache in politischer Hinsicht. Aber ebensosehr werden die Folgeerscheinungen des Krieges auf das Wirtschaftsleben der Völker, auf ihren Wirtschaftsorganismus einwirken. Bei den im Weltkriege ganz oder t
eilweise unterlegenen Völkern werden sich wirtschaftliche Umwälzungen zuerst vollziehen. Bei ihnen hat die hochkapitalistische Wirtschaftsweise bereits den Todesstoß bekommen. In den aus dem Völkerringen siegreich hervorgehenden Industriestaaten wird sich hingegen das alte Wirtschaftssystem aller Voraussicht nach noch einige Zeit halten. Es ist durchaus töricht, wenn in Deutschland führende Wirtschaftsmenschen glauben, die Wirtschaftsformen, wie sie vor dem 1. August 1914 bestanden haben, in das neue Deutschland hinüberretten zu können. Der unblutigen Revolution wird eine wirtschaftliche Revolution, von der wir nur hoffen wollen, daß sie ebenso unblutig verläuft wie die erstere, auf dem Fuße folgen. Es ist, um nur einige praktische Argumente für diese Ansicht ins Feld zu führen, ja unmöglich, unsere Milliarden-Kriegslasten unter den heute bestehenden privatkapitalistischen Wirtschaftsformen aufzubringen. Hier wird der Staat, die Allgemeinheit, tiefe Eingriffe in das Eigentumsrecht vorzunehmen haben. Vielfach werden die Staatsnotwendigkeiten direkt aus dem Produktionsertrage, nicht mehr wie bisher indirekt aus demselben bestritten werden müssen. Abgesehen davon werden wir wirtschaftlich überhaupt nur wieder hochkommen, wenn in den Zeiten der Übergangswirtschaft, aber auch nachher, die Staatsgewalt die ganze Volkswirtschaft im Sinne der Erreichung höchster Ertragsfähigkeit beeinflußt. Alle Drohnen im Wirtschaftskörper, alle unproduktiven Vorgänge in demselben müssen verschwinden.
Als Kriegsursache sehen nicht nur die breiten Massen, sondern auch eine große Zahl von Intellektuellen die hochkapitalistische Wirtschaftsentwicklung der modernen Industriestaaten an. Aus dieser Erkenntnis heraus bildet sich der Nährboden für sozialistische Ideengänge. Nicht mehr der schrankenlose Eigennutz, sondern das Wohl der Allgemeinheit, nicht mehr der schrankenlose Profit sondern die Bedarfsdeckung, nicht mehr rücksichtslose Macht, sondern Recht und Billigkeit sollen in Zukunft ausschlaggebende Wirtschaftsfaktoren werden. Die Sozialisierung unserer Wirtschaft wird also sowohl durch die Macht der Notwendigkeiten, wie auch durch die sozialistische Ideenwelt angebahnt werden. Aber in den Rahmen der Bürgerlichen Parteien, wie diese heute sind, paßt diese neuorientierte Bewegung nicht mehr hinein.
Die kapitalistische Denkweise, der Einfluß kapitalistischer Interessenschichten in den bürgerlichen Parteien ohne Ausnahme ist dazu viel zu stark. Hier ist auch alle Reformarbeit vergebens. Die nichtsozialdemokratische Arbeitnehmerbewegung, insbesondere die 1 1/4 Millionen Arbeiter, Angestellten und kleinen Beamten des deutschen (Christlich-nationalen) Arbeiterkongresses werden die Plattform für eine neuzuschaffende christlich-sozialistische Partei abgeben müssen. Eine ziemliche Anzahl von Intellektuellen wird dazu stoßen. Vorhandene kulturpolitische Gegensätze werden durch weitgehende Toleranz überbrückt werden. Sie kommen durch die scharfen Wirtschaftskämpfe der Zukunft überhaupt in den Hintergrund. * * * Sollte die Entwicklung andere Wege gehen, etwa so, daß die katholischen Arbeiter die reaktionären Elemente im Zentrum hinauswerfen und der Zentrumspartei ihr Programm aufzwingen, dann ergeben sich für den evangelischen Teil der christlich-nationalen Arbeiterbewegung noch viel schärfer zugespitzte Konsequenzen. Über dieselben nachzudenken ist sehr nützlich. Die Stunde des Handelns kann sehr schnell kommen. Wilhelm Gutsche
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(Quelle: Bibliothek des Diakonischen Werkes der EKD - Allensteinstr 53, Berlin-Dahlem)