Abschrift aus "Wille und Gestaltung" - Almanach auf das Jahr 1921 - Eugen Diederichs Verlag in Jena.

Wille und Gestaltung Diederichs Almanach 1921

Volk und Vaterland

von Eugen Diederichs

Was ist der Begriff "deutsches Volk" ? Im Gefühl weiß man es sofort, es sagt uns ein inneres Verbundensein zu jedem Volksgenossen, was wir gemeinsam in der Einstellung auf das Leben haben, das sozusagen aus chaotischem Elemente heraufwächst. Wollen wir uns aber einen Begriff vom Deutschtum machen, versinkt vor dem Auge jede Volksmasse, und es sind nur wenige Namen wie: Hohenstaufen, Walter von der Vogelweide, Meister Eckehart, Grünewald, Dürer, Luther, Goethe, Fichte, Bismarck u. a., die deutlich die bisher erreichten Formen deutschen Wesens zeigen und uns für die Orientierung unseres Wollens zur Zukunft hin einen Maßstab geben. Im Hinblick auf die Großen unseres Volkes scheint mir tiefstes Ringen um die Probleme des Lebens eigentliches deutsches Wesen zu sein, und ich formulierte während des Weltkrieges in der "Tat": Deutsch sein, heißt jedem das Recht auf die Entfaltung seines eigenen Wesens zuzugestehen.

Mir scheint, Deutschland ist nach seinem Zusammenbruch vor die Aufgabe gestellt, sein völkisches Wesen in einer neuen Form sichtbar zu machen, und die schöpferischen Kräfte unseres Volkes haben diese Aufgaben von einem neuen Lebensgefühl aus zu lösen. Es wäre ganz falsch und unfruchtbar, dieses Lebensgefühl von irgendeinem idealistischen Standpunkt aus predigen zu wollen, es wird in einer kleinen Schicht des Volkes, die durch alle Stände geht, zuerst entstehen, es wird sichtbar werden durch die Art der Lebensführung und zu gleicher Zeit wird es in der Kunst Ausdruck finden und dadurch der Masse näher kommen.

Wodurch ist es im Entstehen? Direkt durch geistige Keime und indirekt durch wirtschaftliche Notlage. Es ist der Widerpart zu unserer modernen mechanisierten Großstadt-Genußsucht und ihrem Fabrik-Arbeitsleben. Es ist der Grundirrtum des politisch-sozialistischen Dogmas, daß geistige Keime aus wirtschaftlichen Bedingungen heraus erwachsen. Durch deren günstigere Gestaltung kann man ihnen höchstens den Boden bereiten. Aber ihre Entstehung ist vielmehr das Wunder des unerschöpflichen Lebens, ist Gnade kosmischer Mächte. Nur religiöse Zeiten der Menschheit bringen ein Aufblühen schöpferischer Kräfte hervor, und darin liegt eingeschlossen nicht nur ein Pflegen lebendiger religiöser Kräfte der Gegenwart, sondern auch ein Wurzeln in der Vergangenheit als ein objektives Verhältnis zur Form.

Die geistige und wirtschaftliche Not unserer Zeit läßt sich in eine einfache Formel fassen. Nicht nur dem deutschen Volk, sondern allen Völkern Europas fehlt mehr oder weniger eine aus innerem Entfaltungsbedürfnis kommende religiöse Einstellung zu Leben und damit zum Geist. Der Sinn des Lebens besteht für den Europäer im Erwerb, der Alter und Zukunft der Nachkommen sicherstellen soll, sein Lebensstil ist Geschäftigkeit. Der Lebensstil des religiösen Menschen beruht aber auf seinem Werk, dem geistigen Verhältnis zu seiner Arbeit. Sein innerstes Bekenntnis ist das Erleben der Ehrfurcht und der Mächte der Gnade. Es ist ein Zeichen der Unfruchtbarkeit und geistigen Faulheit, auf einen kommenden gewaltigen religiösen oder nationalen Führer zu hoffen und dabei nichts weiter anzufangen, als rückwärts zu dem was die Vergangenheit geleistet hat, zu blicken. Dieser Vorwurf trifft sowohl die Kirchen als die politische völkischnationale Bewegung der Neuzeit. Alles Harren auf die ungewisse Zukunft kann sich nur durch eigene Tat, nicht durch äußere Begeisterung auslösen.

Was haben wir unter eigener Tat zu verstehen? Seiner Sehnsucht ein festes Ziel zu setzen, seine Instinkte rein zu halten und damit sein Verhältnis zu selbst erlebten Wirklichkeiten zu entwickeln. Wie selten sind die Menschen innerhalb unserer Zivilisation, die ihr Leben als stetiges Experiment, als Probe auf ihre Ansichten hin auffassen. Faßt man aber sein Leben ernsthaft als ein solches Experiment an, so kommt man dadurch zu einem festen und fruchtbaren Verhältnis zur Tradition, zu den Kräften der Vergangenheit. Zu allem Vorwärtsschreiten gehört Verwurzelung.

Es ist entscheidend für die Zukunft des deutschen Volkes, wie weit es eine richtige Stellung zu den religiösen Keimen, die in der Vergangenheit liegen, nimmt, und diese zugleich mit einer irrationalen Einstellung zum Leben verbindet. Es hängt von den praktischen Versuchen ab, die eine gewisse Schicht, die sich nicht nach dem Schema Bourgeoisie oder Proletariat teilt, machen wird und machen muß. Ihre ersten Anzeichen werden dem schauenden Auge offenbar als Suchen nach neuen Gemeinschaftsformen in Gestalt von Siedlungsversuchen und Arbeitsgemeinschaften, auch als Eingestelltsein auf den Rhythmus in dem Rahmen der Körperkulturbestrebungen durch schaffenden Tanz (nicht Sport) und damit als Suchen nach den Formen einer lebenschaffenden Festkultur (Rudolf von Laban). Es finden die ersten tastenden Versuche statt, dem Land durch Handwerk und intensive Bodenkultur wieder zu einer geistigen Wechselwirkung mit gesunder Stadtentwicklung zu verhelfen (Leberecht Migge). Das Überbrücken der Klassengegensätze zeigt sich durch einen anderen Begriff der Bildung an (Richard Benz), denn es heißt in Zukunft nicht hie Bürgertum - hie Proletariat, sondern hie auf geschaute Bilder eingestellter selbstschöpferischer Mensch - hie schematischer Intellektualist.

Es ist ganz unfruchtbar, sich intellektuell als religiöse Entwicklung eine sogenannte kommende Synthese von Orient und Okzident oder von Katholizismus und Protestantismus zu denken. Beide Prinzipien, die weiblich passive Seele des Orients und die faustisch tätige Seele des Okzidents werden immer selbständig in gegenseitiger Ergänzung gesondert bestehen müssen, ebenso das katholische Gemeinschaftsprinzip und der protestantische Individualismus. Das schließt aber nicht aus, daß katholischer Dogmatismus sowohl wie protestantischer Subjektivismus gründlich und endgültig abgewirtschaftet haben und daß aus schlichtem religiösen Gemeinschaftsleben, das auf übersinnliche Mächte eingestellt ist, in enger Verbindung mit einem nach seelischer Weite orientierten Individualismus ein neues religiöses Lebensgefühl sich emporringt, das die ganze Volksgemeinschaft wie in den Zeiten der Gotik umfaßt. Vielleicht wird unser Führer dazu Goethe sein, der religiöse Goethe, der sich in seiner Stellung zu den Urphänomenen des Lebens offenbart, der Goethe des organischen Schauens, der Goethe der Ehrfurcht vor den objektiven Gewalten des Lebens (Ernst Michel).

So hält sich ein Volk nur gesund wenn es in allen seinen Schichten religiös durchdrungen ist. Dann erst führt der Begriff Vaterland nicht zur Abschließung von anderen Völkern, sondern zur differenzierten Ausbildung seiner Anlagen innerhalb der großen europäischen Gemeinschaft. Schon von jeher hat germanisches Denken mit dem Wort Staat nichts rechtes anfangen können. Der Begriff Vaterland ging ihm stets über die politischen Grenzen hinaus zur Volksgemeinschaft der geistig Verbundenen. Mein Vaterland muß größer sein! Es ist eine irreführende Ideologie, den germanischen Staat aus der Einzelpersönlichkeit oder der Zelle der Einzelfamilie erwachsen zu lassen. In den altgermanischen Zeiten setzte sich der Staat aus Sippen zusammen. An Stelle der Blutsverwandtschaft tritt heute die geistige Verwandtschaft, die Arbeitsgemeinschaft zur Verwirklichung organischer, durch Ideen bestimmter Lebensformen. So betrachte ich auch meinen Verlag als eine moderne Form der Arbeitsgemeinschaft, bestimmt auf das große Ganze zu wirken. Zu ihr gehört nicht nur das schöpferische Verantwortungsgefühl der Autoren, sondern auch das Zugehörigkeitsempfinden des Lesers.

Wenn ich nach fast 25 jähriger Tätigkeit zurückblicke, scheint mir die erste Periode des Verlages in einer überaus starken Betonung der Persönlichkeitskultur und allerlei Ansätzen, über sie hinauszukommen, zu bestehen. Alle einseitige Kultur des eigenen Selbst führt zur Disharmonie mit der Welt und mit sich selbst. Nur der sich verströmende Mensch gestaltet sich zur Harmonie, denn er wird schauend. Aber alles Sich-Verströmen braucht, um sich nicht zwecklos zu erschöpfen, Wille und Gestaltung.

Es ist meine feste Überzeugung: das tragische Schicksal, das über Deutschland durch seinen Zusammenbruch kam, zwingt es durch die wirtschaftliche Not, ein nahes Verhältnis zum Geist zu suchen. Das Erlebnis des Geistes aber kommt nicht für die Masse durch idealistische Reden über Religion oder Geist, sondern durch die Wirkungskraft der Kunst. Alle echte Kunst ist tendenzloses Lebensbekenntnis und tiefste Lebenserkenntnis, sie stammt aus der Begrenztheit der Persönlichkeit, ist aber geboren aus den Zusammenhängen des Menschen mit weltweiten kosmischen Kräften.

Der deutsche Geist muß fest in deutscher Natur und in den Traditionen seines Volkes wurzeln, um dann in kühner Entdeckerfahrt einen neuen Weltteil in den Sternen zu finden. Dann erst wird deutsches Wesen aus Formlosigkeit zur Form kommen, dann wird der chaotische Zustand der Gegenwart mit all den Merkzeichen der Würdelosigkeit, dem Mangel an Verantwortungsgefühl und der Gier nach Genuß in einem neuen Griechentum der inneren Ausgeglichenheit der Welt Achtung und Liebe abnötigen.

 

(Quelle: Almanach auf das Jahr 1921 - Eugen Diederichs Verlag in Jena.)


Erstellt am 17.01.01 - Letzte Änderung am 17.01.2001.
Winfried Hartwig
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