4. Jahrgang * 1920/21 Heft 4, «Der Neue Merkur», Monatshefte
Herausgeber: E. Frisch und W. Hausenstein
Verlag „Der Neue Merkur“ München

[Seite 264]

Groteskes Zeitereignis

von Christian Morgenstern

Sie laden mich ein, sehr geehrter Herr, mich über irgendein "groteskes Zeitereignis" zu äußern.

Darauf könnte man antworten, dies sein insofern nicht möglich, als ein einheitlicher Zeithintergrund andern, als nicht grotesken Charakters, worauf sich ein einzelnes Ereignis als grotesk abzuheben vermöchte, fehle. Die Gegenwart sei etwa in einem ähnlichen Sinne grotesk, wie ein Pferd mit menschlichem Oberhaupt und Haupt, wie ein - Centaur. Was ein solches Wesen auch tue oder lasse, es werde zuletzt immmer Unbehagen erregen, bei den einen, weil sie einem Halbtier ein Volltier, bei den andern, weil sie einem Halbmenschen einen vollmenschen vorzögen.

So könnte man vor dem Gemisch von Geistigkeit und Ungeistigkeit, das wir im Gegenwärtigen darstellen, antworten, wenn sich der Begriff des Grotesken unter allen Umständen durchhalten ließe. Aber er ist, wenn ich so sagen soll, ein Mondbegrif. Das Liebeslicht der Sonne lebt nicht in ihm. Er ist ein Begriff ohne Wärme, ohne Gerechtigkeit, Erhöhter Betrachtung wird unser Leben als - tragisch erscheinen. Aber auch hierbei kann es nicht sein Bewenden haben. Zur Empfindung muß sich Verständniswille gesellen. Es heißt nicht: -, und wo Ihr's anpackt, ist es grotesk oder tragisch, sondern: da ist es - interessant. Vitae inter-esse, der Welt beiwohnen, innewohnen gleichsam, von innen heraus, aus ihrem Was und Wie zu begreifen, zu ergreifen gilt es, ihrem Bauplan nachzuforschen heißt es. Ihrem Bauplan: denn was soll all unser Hämmern und Zimmern, wenn wir um den nicht wissen, wenn wir nicht mindestens von denen lernen, denen denkend nachfolgen wollen, die um ihn wissen? Kann wohl ein Arbeiter an einem Bauwerk arbeiten, blind drauf los, nach persönlichem Ermessen, auf eigene Faust? Muß nicht zuvor die Grundidee im Kopfe des Baumeisters als geistiges Bild dagestanden haben, um dann hinunterzufließen bis in den letzten Mann?

Und doch ist die tonangebende Gegenwart ein Arbeiter, der im wesentlichen so arbeitet: blind drauf los, nach persönlichem Ermessen, auf eigene Faust.

Dies sich zum Bewußtsein zu bringen, scheint mir, ist die erste Stufe, von der aus es bisser werden kann, die erste Stufe eines ersten Verständnisses. Ohne sie bleibt nur Weltschmerz oder Weltverachtung, läßt sich die Welt nur schlichthin empfinden, so in uno wie in partibus, als Tragödie oder Groteske.



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Erstellt am 20.02.2010 - Letzte Änderung am 20.02.2010.


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