Wir kommen zum nächsten Gegenstand der Tagesordnung,
zur
zweiten Beratung des von den Abgeordneten
Crispien und Genossen eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Einkommensteuergesetzes
(Nr. 4203 der Drucksachen).
Mündlicher Bericht des 11. Ausschusses
(Nr.
4768 der Drucksachen).
Berichterstatter: Abgeordneter Soldmann
(Franken).
Als Kommissare sind angemeldet:
Ministerialdirektor Dr. Popttz,
Ministerialräte Kuhn, Dr. Dorn, Dr. Zarden,
Oberregierungsrat Dr. Pissel,
Regierungsräte Vogt, Weltzien, Dr. Rosenbauer.
Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Herr Abgeordnete
Dr. Curtius.
Dr. Curtius, Abgeordneter: Meine Damen und
Herren! Ich möchte bitten, erst darüber Beschluß zu fassen,
ob wir heute die zweite Lesung der gesamten Steuergesetze
erledigen wollen. Wir haben bisher die gesamten Gesetze
zusammen behandelt, und wir möchten sie auch zusammen
verabschieden. Ich halte es nicht für richtig, etwa in die
Beratung des Einkommensteuergesetzes allein einzutreten,
ohne daß wir darüber klar sind, daß wir die gesamten
Steuergesetze heute in zweiter Lesung verabschieden.
Präsident: Das läßt sich geschäftsordnungsmäßig
schlecht machen, weil das Haus in einem späteren Stadium
auch wieder einen andern Beschluß fassen kann, als wir
ihn im Augenblick fassen.
Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete
Koch (Weser).
Koch (Weser), Abgeordneter: Ich bitte dringend,
mit der Beratung der Steuergesetze zu beginnen. Wir
sind bereit, sie auch zu Ende zu führen. Aber irgendein
Versprechen darüber abzugeben, ist ganz unmöglich, da
wir gar nicht wissen, wie die Mehrheit sich vielleicht nach
3 oder 4 Stunden zu der Sache stellen wird, wenn es so
lange dauern sollte. Wenn man versuchen will, die Geetze
noch zu verabschieden, ist es das beste, alsbald in
die Beratung einzutreten.
Präsident: Einen solchen Antrag, wie er gestellt
war, kann ich nicht zur Abstimmung bringen. Ich könnte
höchstens über einen Antrag abstimmen lassen, die Verhandlungen
jetzt abzubrechen; aber ein solcher Antrag ist
nicht gestellt. Wir müssen versuchen, soweit wie möglich
in der Beratung voranzukommen.
Das Wort hat der Berichterstatter, Herr Abgeordneter
Soldmann (Franken).
Soldmann (Franken), Abgeordneter, Berichterstatter:
Das seit dem 1. Juli 1920 in Kraft befindliche Einkommensteuergesetz
ist- bereits sechsmal einer Abänderung
unterzogen worden, das letztemal im Dezember 1920.
8614 Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922.
(Soldmann (Frankens Berichterstatter.)
Bereits ein im Mai dieses Jahres eingebrachter
Antrag Crispien, der dem Reichstage unter Nr. 4203 der
Drucksachen zugegangen war, war Anlaß, erneut in eine
Beratung über die Änderung des Einkommensteuergesetzes
einzutreten. Es möge mir gestattet sein, von dieser
Stelle aus hervorzuheben, daß sämtliche Parteien des
Hauses im 11. Ausschuß den Standpunkt einnahmen, daß
eine Änderung des Einkommensteuergesetzes notwendig sei.
Von seiten des Reichsrats hat der Vertreter
Bayerns, und zwar in Gemeinschaft mit andern Vertretern
der größeren Länder des Reichs, darauf hingewiesen, daß
vom Standpunkt der Länder und Gemeinden gegen eine
Änderung des Einkommensteuergesetzes durch Senkung
der Steuertarife, vor allem aber gegen eine Rückwirkung dieser
Maßnahmen erhebliche Bedenken erhoben werden müßten.
Durch eine neue Änderung werde ihnen wiederum jeglicher
Überblick über ihre Einkünfte auf absehbare Zeit unmöglich
gemacht. Die Länder müßten es sich daher vorbehalten,
gegen das Reich Ansprüche auf anderweitige
Entschädigung für den ihnen und den Gemeinden
entstehenden Ausfall an Einkünften zu stellen. Diesen Einwänden
wurden von seiten des Vertreters des Reichsfinanzministeriums
entgegnet, daß die Änderung des
Tarifs eine wirtschaftliche Notwendigkeit sei, daß dagegen
eine Rechtsgrundlage für die Erhebung von Ersatzansprüchen
seitens der Länder und Gemeinden an das
Reich nicht gegeben sei. Auch Mitglieder des Ausschusses
haben sich dem Bedenken nicht verschlossen, daß es nicht
ohne weiteres so ganz einfach läge, hier den Ländern und
Gemeinden eine nicht unerhebliche Steuerquelle wegzunehmen.
Dennoch hat sich der Ausschuß nahezu einstimmig
auf den Standpunkt gestellt, daß eine Änderung
des Einkommensteuergesetzes nicht mehr zu umgehen sei.
Die Änderungen, die nunmehr im Gesetz vorgenommen
sind, betreffen in erster Linie den § 12. Dort ist eine
ziemlich bedeutungslose Änderung vorgenommen, indem in
Nr. 6 hinter den Worten „Orts- und Teuerungszulagen"
die Worte „nebst Teuerungszuschüssen" angefügt sind.
In Nr. 7 desselben Paragraphen ist ein Passus geschaffen,
der besagt, daß Militärpensionen usw. künftig unbegrenzt
steuerfrei sein sollen. Dies traf bisher nur bis zu einem
Betrage von 8000 Mark zu.
Im § 13 sollen nach den Beschlüssen des Ausschusses
in Abs. 1 Nr. 4 die Worte „hundert Mark" durch die
Worte „eintausend Mark" ersetzt werden. Das betrifft
die Beträge, die für Sterbekassen aufzuwenden sind. Im
Abs. 1 Nr. 5 sollen die Worte „dreitausend Mark" durch
die Worte „achttausend Mark" ersetzt werden, wobei es
sich um die Lebensversicherungen usw. handelt.
Neu geschaffen ist ein § 5 a, und zwar auf Grund
eines Antrages Merck, der in der ersten Lesung des elften
Ausschusses abgelehnt, in der zweiten Lesung aber zum
Beschluß erhoben wurde. Dieser Abs. 5 a lautet:
Spareinlagen bis zu einem Betrage von 8000
Mark jährlich, sofern die Rückzahlung des Kapitals
nur für den Todesfall oder für den Fall des
Erlebens innerhalb einer Zeit von nicht weniger
als 20 Jahren vereinbart ist und die Vereinbarung
unter Verzicht beider Vertragsteile auf eine
Abänderung oder Aufhebung dem zuständigen
Finanzamt angezeigt wird.
Dieser Antrag ist in zweiter Lesung, nachdem er in erster
Lesung «belehnt war, angenommen worden. Neu ist ein
Absatz § 13 Ziffer 6 a,, der die Religionsgemeinschaften,
wie im Art. 137 der Reichsverfafsung vorgesehen ist,
steuerfrei belassen will.
Eine redaktionelle Änderung von nicht weittragender
Bedeutung hat die Nr. 7 des Abs. 1 erfahren, in der vor
den Worten „Beiträge an inländische Vereinigungen"
„einmalige und regelmäßige" eingefügt werden soll.
Etwas unklar ist eine Bestimmung, laut Beschluß
des 11. Ausschusses, daß ein Abs. 3 im § 13 angefügt
werden soll, der da lautet:
Die Befreiungen des Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 5 a.
können nicht nebeneinander geltend gemacht werden.
Es wird dem durch einen Antrag Merck, der dem Hause
jedenfalls noch unterbreitet werden wird, abgeholfen, und
zwar dahingehend — das kann wohl auch ruhig vom
Ausschuß empfohlen werden —, daß die Befreiungen nach
Abs. 1, 5 und 5 a den Betrag von zusammen 8000 Mark
nicht überschreiten. Das würde eine Klärung geben und
irgend welche Irrtümer ausschließen.
§ 21 hat eine weitgehende Änderung erfahren. Ich
will gleichzeitig bemerken, daß neben dem Antrag 4203
der Drucksachen auch im Ausschuß ein Ausschußantrag
407 Dr. Fischer (Köln), dann 410 vom
Zentrum vorgelegen hat, die teilweise über den ursprünglichen
Antrag Crispien hinausgingen, der 80000 Mark
in ß 21 als Grundlage nehmen wollte, und zwar, soweit
es den lOprozentigen Lohnabzug darstellt. Er wurde
erhöht von 80000 Mark auf 100000 Mark und so fort,
da die Antragsteller die Formulierung vom Mai als
überholt bezeichneten. Dieser Antrag ist abgelehnt
worden. An dessen Stelle ist der Antrag Fischer (Köln)
zur Annahme gelangt.
In § 26 dreht es sich um das Existenzminimum.
Hier hat eine Erhöhung von 240 auf 480 für den
Steuerpflichtigen und für seine nicht selbständig zu veranlagende
Ehefrau stattgefunden, und zwar bis zu
einem steuerbaren Einkommen von nicht mehr als
100000 Mark gegenüber bisher 50000 Mark, dann eine zweieinhalbfache
Erhöhung des steuerfreien Existenzminimums
für die Kinder. Hier betrug das steuerfreie Eristenzmininimum
nach dem alten Gesetz 360 Mark.
Es soll nach den Beschlüssen des Ausschusses
960 Mark für jedes zur Haushaltung des
Steuerpflichtigen zählende minderjährige Kind, das nicht selbständig
zur Einkommensteuer zu veranlagen ist, betragen,
und zwar nicht nur wie bisher bei einem Einkommen
von nicht mehr als 200000 Mark, sondern künftig von
300 000 Mark. Im Antrag Crispien wurde gefordert,
daß Kinder bis zum 18. Lebensjahr mit abzugsfrei sein
sollten. Wegen der technischen Schwierigkeiten, die von
seiten der Vertreter der Regierung geltend gemacht
wurden, ist der Antrag zurückgezogen worden.
Neu ist im § 26 ein weiterer Absatz, der die Not
der Kleinrentner berücksichtigen soll. Künftig soll die
Einkommensteuer um 2000 Mark für jene Steuerpflichtigen
ermäßigt werden, die über 60 Jahre alt oder erwerbsunfähig
oder nicht bloß vorübergehend behindert sind,
ihren Lebensunterhalt durch eigenen Erwerb zu bestreiten,
sofern das steuerbare Einkommen den Betrag von 50000
Mark nicht übersteigt. Es trägt dies einem Wunsch
Rechnung, der von allen Parteien des Ausschusses als
berechtigt anerkannt wurde. Die Bestimmung hat auch
einstimmige Annahme gefunden.
Im Abs. 2 des § 26 soll die bisherige Zahl 80000
durch 200000 ersetzt werden. Hier handelt es sich um die
Berücksichtigung besonderer wirtschaftlicher Verhältnisse.
Im § 44 des Gesetzes soll es hinter den Worten
„§ 9 Nr. 3" künftig heißen: „oder im § 11 Nr. 1".
Der § 9 Nr. 3 bezieht sich auf Wartegeld und Ruhegehälter,
Witwen- und Waisenpenstonen und andere Bezüge.
Der § 11 Nr. 1 spricht von Leibrenten, Leibgedingen,
zeitlichen und vererblichen Renten. Dieser Antrag
ist auch einmütig gutgeheißen worden.
Zu § 44 Abs. 2 ist weiter beantragt worden, an
Stelle der Worte „10000 Mark" „20000 Mark" und an
Stelle der Worte „25000 Mark" „50000 Mark" zu
setzen. Es handelt sich hier um die Anrechnung der
Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922. 8615
(Soldmann (Frankens, Berichterstatter.)
Kapitalertragssteuer. Dies ist erstmalig im Gesetz vom
17. Dezember 1921 zur Berücksichtigung gekommen.
Die Änderung des § 46 ist analog der zum § 26
und betrifft hier den zehnprozentigen Lohnabzug. Sie
sieht die Höhersetzung des kleinen steuerfreien Existenzminimums
vor. Hier findet dieselbe Verdoppelung statt
wie in ß 26, und zwar sind die bisherigen Zahlen 20
für volle Monate auf 40, 4,80 für volle Wochen auf
9,60 Mark, 80 Pfennige pro Tag auf 1,60 Mark und
20 Pfennige für 2 volle Arbeitsstunden auf 40 Pfennige
hinaufgesetzt worden.
Der Abs. 2 des § 46 sieht in seiner neuen Fassung
auch bezüglich der minderjährigen Kinder vor, daß an Stelle
von bisher 30 Mark für ein Kind 80 Mark pro Monat,
gegen bisher 7,20 Mark pro Woche künftig 19,20 Mark,
pro Arbeitstag bisher 1,20 Mark, künftig 3,20 Mark und
für 2 Arbeitsstunden künftig 80 Pfennige statt bisher
30 Pfennige gesetzt werden.
Die Werbungskosten, d. h. die Abgeltung der Abzüge
nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 bis 7, haben eine Verdoppelung
erfahren, und zwar pro Monat von 45 auf 90 Mark, pro
Woche von 10.80 auf 21,60 Mark, pro Tag von 1,80
auf 3,60 Mark und sür zwei Arbeitsstunden von
45 Pfennigen auf 90 Pfennige.
Auch der Satz, der eine Steuerreklamation zuläßt,
mußte erhöht werden. Dies bedingt eine Änderung im
Abs. 3 des 8 46 von 5400 auf 10800 Mark. Künftig
soll nicht mehr bei einem Mehr von 450 Mark, sondern
erst dann eine Reklamation zulässig sein, wenn die Beträge
1200 Mark mehr ausmachen.
Für diejenigen, die nicht in regelmäßiger Arbeit
stehen, waren bisher 4 Prozent des verdienten Arbeitslohns
als 10 prozentiger Lohnabzug vorgesehen. Dafür
sollen 5 Prozent gesetzt werden.
Der § 48 erfährt eine Änderung dahingehend, daß
die Zahl 50000 durch 100000 ersetzt werden soll. Es
handelt sich hier um den Steuerabzug als solchen. In
den Abs. 1 und 2 ist eine Änderung der Ziffern von 600
aus 1200 vorgesehen.
§ 49 betrifft die Veranlagung. Hier soll eine besondere
Veranlagung künftig bis 100 000 Mark, bisher
50000 Mark, zulässig sein.
Neu ist der § 52o, der seine Fassung dahin erhält,
daß die Träger der Reichsversicherung nach der Reichsversicherungsordnung
und die Träger der Versicherung
nach dem Versicherungsgesetz für Angestellte künftig den
Finanzbehörden jedweden Aufschluß geben sollen, damit
die obliegende Prüfung und Aufsicht erfolgen kann.
Ein Art. II wurde neu geschaffen, und zwar sieht er
einen Ausgleich für jene vor, die das Reichsnotopfer voll
bezahlt haben. Es ist dies ebenfalls ein einstimmiger
Beschluß des Ausschusses.
Dann hat sich ein Art. III deswegen notwendig gemacht,
weil der zehnprozentige Lohnabzug erst am
1. August in Kraft treten kann. Und zwar ist hier vorgesehen,
daß anstatt 480 und 960 Mark 340 respektive
610 Mark gesetzt werden. Das ist notwendig, weil mitten
im Jahre die Veränderung des Einkommensteuergesetzes
erforderlich ist und jedenfalls auch vom Hause in diesem
Sinne angenommen werden wird.
Dies wäre in großen Zügen das, was eine Änderung
des Einkommensteuergesetzes bedeutet. Der Ausschuß empfiehlt
dem Plenum, die eingegangenen Petitionen durch
die Beschlußfassung über den Gesetzentwurf für erledigt
zu erklären. Im großen und ganzen hat all das Berücksichtigung
gefunden, was an Beschwerden und Eingängen
teils von Lohn- und Gehaltsempfängern, teils aber auch
von Kleinrentnern und sonstigen Bevölkerungsschichten zum
Einkommensteuergesetz eingegangen ist.
(Bravo! links.)
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hartwig.
Hartwig, Abgeordneter:
Meine Damen und
Herren! Meine Freunde haben zu diesem Artikel
einige Anträge gestellt, für die ich bitte Ihre Aufmerksamkeit
nur wenige Zeit in Anspruch nehmen zu
dürfen. Die Anträge wollen die Aufmerksamkeit des
Hauses auf die brennende Not lenken, die gerade bei
den kinderreichen Eltern heute vorhanden ist. Ich bin
gewiß, daß ohne Unterschied der Partei unsere Anträge
ein lebhaftes Echo im Reichstag finden werden.
Die Not der kinderreichen Eltern macht ja keinen
Halt an irgendeiner Parteigrenze. Es ist doch klar
zutage getreten, daß allen solchen Anträgen, gleichviel
von welcher Seite des Hauses sie kamen, überall fast einstimmige
Billigung zuteil wurde. So hoffe ich und
meine Freunde, daß auch dieser Antrag Ihre Zustimmung
findet. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie
stark heute der Wert des Geldes gefallen ist, daß die
Kaufkraft des Einkommens kinderreicher Eltern sich
mit jedem Zuwachs der Familie ungeheuer vermindert,
wenn man sich vergegenwärtigt, wie irgendein
Unglücksfall in der Familie solche kinderreiche Eltern
wirtschaftlich zum Zusammenbruch bringt, dann muß
man heute mehr wie je darüber nachdenken und nach
Mitteln suchen, ihnen die Existenz zu ermöglichen.
(Sehr richtig! bei den Deutschnationalen.)
Daß gerade hier Hilfe notwendig ist, ergibt sich, wenn
man überlegt, daß heute in Groß Berlin etwa 45 000
Familien sind, die man zu den kinderreichen, also mit
mehr als vier Kindern, rechnen kann, und daß drei
Viertel dieser 45 000 Eltern weit unter 100 000 Mark
Einkommen haben. Wenn man sich vergegenwärtigt,
was heute ein Familienvater oder eine Mutter bei
fünf oder sechs Kindern im Jahre damit anfangen soll (lü
bei der heutigen Entwertung des Geldes, wo die
Teuerung in stetem Fortschreiten begriffen ist, wenn
man weiter beachtet, daß jedes weitere Kind das Einkommen
mit einem vielfachen an Umsatzsteuer, an
Ausgaben aller Art belastet, so muß man anerkennen,
daß das Steuerminimum, das wir hier festgesetzt
haben, den kinderreichen Eltern die Existenz nicht
garantiert. Helfen Sie den überlasteten Vätern und
Müttern und nehmen Sie unsern Antrag, bei mehr als
zwei Kindern in jedem Fall den Abzug um 20 Prozent
zu erhöhen, an.
Der Reichstag muß vor allen Dingen einmal den
kinderreichen Eltern praktisch den Beweis dafür liefern,
daß die Reichsverfassung, die ja in verschiedenen
Artikeln — ich richte Ihre Aufmerksamkeit auf die
Artikel 119 und 155 — gerade den kinderreichen
Familien eine „ausgleichende Fürsorge" bestimmt zusagt,
auch in Anwendung gebracht Wird. Das ist bisher
nicht in dem notwendigen Maße geschehen.
Es ist auch jetzt wieder im Ausschuß versucht
worden, den Familien zu helfen. Aber ich möchte
doch nochmals besonders betonen, daß hier Weiteres
geschehen muß, um dem bei jedem Familienzuwachs
sich vergrößernden Elend entgegenzuwirken. Darum
möchte ich an Sie den Appell richten: seien wir doch,
meine Damen und Herren, in dieser Frage im hohen
.Hause nur eine Partei, helfen wir den kinderreichen
Eltern! Es handelt sich wirklich um die Zukunft
unseres Volkes, denn in unseren Kindern sehen wir
letzten Endes die Hoffnung Deutschlands.
(Bravo! bei den Deutschnationalen.)
Präsident: Das Wort hat der thüringische
Finanzminister Hartmann.
8616 Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922.
Hartmann, thüringischer Finanzminister:
Meine
Damen und Herren! Der Herr Berichterstatter hat
schon darauf aufmerksam gemacht, daß in den
Ausschußverhandlungen von seiten der Ländervertreter
die schwersten Bedenken gegen die Anträge zum Einkommensteuergesetz
und die daraus entstandene Vorlage
vorgebracht worden sind. Ich halte mich für verpflichtet,
im Aufträge der thüringischen Regierung
noch einmal eingehend die ganzen Verhältnisse klarzulegen,
die aus der Änderung des Einkommensteuergesetzes
für Länder und Gemeinden entstehen
müssen.
Die Ursache dieser Vorlage ist die Geldentwertung.
Man sagt, das Einkommensteuergesetz muß der Geldentwertung
angepaßt werden, damit es gerade für die
Ärmsten nicht allzu hart wirken soll. Ich bin nun der
Meinung, wenn man schon Steuern der Geldentwertung
anpassen will, dann gibt es in Deutschland
noch Steuern, die ungerechter wirken und die dann viel
eher der Geldentwertung angepaßt werden müssen.
Ich will nur zwei herausgreifen. Wir haben die
Kohlensteuer, die den Hausbrand für die Bewohner,
auch für die allerärmsten, ganz außerordentlich belastet,
und ich befürchte, daß, wenn die Kohlenverteuerung
und die schlechte Belieferung so weiter
geht, wie sie augenblicklich steht, wir in den Waldgegenden
im kommenden Winter eine Katastrophe für
unser kostbarstes Nationalvermögen, für unseren Waldbestand
bekommen. Die Kohlensteuer ist im Jahre
1916 eingeführt, mit einem Prozentsatz von 20.
Damals kosteten 10 Tonnen Braunkohlenbriketts, also
des häufigst vorkommenden Brennstoffs, 160 Mark, einschließlich
Steuern. Die Steuer betrug demnach damals
etwa 27 Mark auf 200 Zentner. Im Juni dieses Jahres
kosteten dieselben 200 Zentner, einschließlich Steuern,
M) 7300 Mark.
(Hört! Hört! auf der äußersten Linken.)
[200zt sind umgerechnet 10t. wh]
Die Kohlensteuer beträgt 40 Prozent, das heißt, sie
beträgt zurzeit nicht mehr wie damals 27 Mark, sondern
2100 Mark auf 200 Zentner.
(Hört! Hört! auf der äußersten Linken.)
Sie hat sich als versiebenundsiebzigfacht.
(Zuruf rechts: Steht denn das zur Debatte?)
— Ob das zur Debatte steht? Wir haben von den
Ländern aus nachzuweisen, daß es Steuern gibt, die viel
dringender der Geldentwertung angepaßt werden müssen
als die Einkommensteuer.
(Zuruf rechts: Also Sie reden gegen die Reichsregierung!)
Dann möchte ich als zweites die Umsatzsteuer herausgreifen,
die noch den Nachteil hat, daß sie die Kohlensteuer
wieder mitbesteuert, daß sie ebenso auch alle
anderen indirekten Steuern erhöht, die bereits auf
Lebensmitteln und Verbrauchsartikeln ruhen. Die Umsatzsteuer
ist 1916 mit 1/2 vom Tausend eingeführt;
augenblicklich beträgt sie 20 vom Tausend, 2 Prozent,
das ist eine Vervierzigfachung. Die Preise sind für alle
Verkaufsartikel und Lebensmittel seit dem Jahre 1916,
rund gerechnet, mindestens auf das Fünfzigfache gestiegen.
Das beides zusammen bedeutet eine Verzweitausendfachnng
der Umsatzsteuer seit dem Jahre 1916.
Meine Damen und Herren! Wir von der Thüringer
Regierung sind der Meinung, daß es viel dringender
wäre, eine solche Steuer der Geldentwertung anzupassen,
das heißt, erheblich herabzusetzen, weil sie direkt ungeheuer
verteuernd auf alle Lebensmittel und Produkte
wirkt.
Wir haben auch sonst von Reichsbehörden Abgaben
zu tragen, die viel schlimmer als die Einkommensteuer
wirken. Ich will nur ein Beispiel bei der Eisenbahn
herausgreifen. Ich fand in dem Betriebe, dem ich bis
zum Oktober vorgestanden habe, ein Schreiben der Eisenbahndirektion
vor, das eine Abgabe für eine kleine
Tätigkeit neu festsetzt. Sie betrug 1920 50 Pfennige,
1921 1 Mark und vom 1. Juli dieses Jahres ab
63,50 Mark. Das ist eine Verhundertsiebenundzwanzig«
fachung seit dem Jahre 1920.
Wir sehen also, daß nicht die Einkommensteuer
allein eine solche Erhöhung infolge der Geldentwertung
erfahren hat. Bei der Einkommensteuer liegt es so, daß,
wenn jemand im Jahre 1916, zu der Zeit, für die ich die
anderen Steuern angeführt habe, ein steuerbares Einkommen
von 1800 Mark gehabt hat und jetzt ein solches
von 60 000 Mark hat, nach den damaligen Steuersätzen
in den einzelnen Ländern mit den Zuschlägen der Gemeinden
bei einer Lohnverdreiunddreißigfachung eine
53 fache Steuer eingetreten ist, das heißt also, die
Steuer ist nach dem jetzt geltenden Gesetz im Verhältnis
zur Steigerung der Einkommen um reichlich 50 Prozent
höher als 1916, der Geldentwertung angemessen.
Diese Last werden wir in Deutschland, wenn wir
wieder hochkommen wollen, wahrscheinlich dauernd
tragen müssen. Wir werden erheblich mehr Steuern
zahlen müssen als vor dem Kriege. Dafür haben wir ja
die ungeheuer viel höheren Lasten bekommen. Wenn
man alles in Rechnung setzt, findet man aber, daß die
Einkommensteuer nicht diejenige ist, die zuerst abgeballt
werden muß.
Wenn man dann die zweite Frage auswirft, ob die
Steuerherabsetzung den Steuerzahlern auch allgemeinen
Vorteil bringen soll, so muß man zunächst sagen, daß
eine allgemeine Erhöhung der steuerfreien Beträge und
eine allgemeine Herabsetzung der Prozentsätze keinen
Erfolg haben kann. Man kann nach meiner Überzeugung
eine kleine Gruppe von Steuerpflichtigen herausnehmen,
die besonders übel daran sind, und deren Sätze er- ^
mäßigen; dann wird man ihnen Vorteil bringen. Wenn
man aber im allgemeinen allen Steuerzahlern die
gleiche Ermäßigung gewährt, so bleibt zwar in allen
Händen Geld in größerer Menge, aber die Waren, die
Gebrauchsgüter, die Lebensmittel, die in Deutschland
vorhanden sind, vermehren sich in keiner Weise. Lediglich
die Geldvorräte vermehren sich, das Angebot des
Geldes wird noch stärker gegenüber der vorhandenen
Ware und eine allgemeine Verteuerung der Waren wird
die Folge dieser Maßnahme sein. Aus diesem Grunde
vor allem kann ich einer solchen allgemeinen Änderung
nicht zustimmen.
Sie ist jetzt ganz besonders gefährlich. Die ganze
Geschäftswelt ist von einer Nervosität erfaßt, daß derjenige,
der im Wirtschaftsleben und im Handel Bescheid
weiß, überzeugt ist, daß heute jeder Geschäftsmann,
schon um sein Betriebskapital zu retten, so viel als
möglich an Gewinn aufzuschlagen sucht, um die später
zu kaufenden, viel teureren Waren noch bezahlen zu
können. Wenn man also heute mehr Geld auf den Markt
wirft, so sucht unter allen Umständen der Warenbesitzer
dieses Geld möglichst rasch durch überteuerte Preise an
sich zu ziehen.
Wenn man dann fragt, welche Wirkung die Änderung
auf Länder und Gemeinden haben wird — die
Einkommensteuer bildet heute das Rückgrat der Hapshalte
der Länder und Gemeinden —, und wenn man
sagt, die Erhöhung der Löhne und Gehälter in der Zukunft
wird die Herabsetzung der Steuer schnell wieder
ausgleichen, so bin ich der Meinung, das genügt absolut
nicht; denn die Ausgaben, namentlich die laufenden, bei
Ländern und Gemeinden haben sich seit dem Vorjahr?
verdreifacht, vielleicht schon vervierfacht, wenigstens die
meisten sachlichen Ausgaben. Gemeinden und Länder
Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922. 8617
(Hartmann, thüringischer Finanzminister.)
müssen also nicht nur denselben Betrag an Steuern
einbekommen, sondern sie müssen 3- bis 4 mal soviel
einzunehmen suchen, wenn sie überhaupt ihren Haushalt
ins Gleichgewicht bringen wollen.
Ich will Ihnen nicht im einzelnen an Zahlen nachweisen,
wie ungeheuer schwierig für die einzelnen Gemeinden
die ganze Änderung wirken muß; aber sie trifft
die Gemeinden um so härter, weil sie heute mit den
Ländern zusammen die Wohlfahrtspflege und namentlich
die Fürsorge für jene unglücklichen Menschen übernehmenmüssen,
die nicht imstande sind, ihr Einkommen
zu vermehren, die nicht arbeitsfähig sind, die dem Elend
preisgegeben sind, und der Herr Berichterstatter zu
Punkt 3 der Tagesordnung hat ja ausgeführt, daß es
die Ärmsten in Deutschland sind, die heute noch einer gewissen
Armenfürsorge anheimgegeben sind. Es ist unbedingt
notwendig, daß diese auf dem Wege der
Wohlfahrtspflege versorgt werden und nicht durch die
polizeimäßige Armenfürsorge. Wie soll das geschehen,
wenn nicht Gemeinden und Ländern erheblich größere
Einnahmen zufließen, als es bisher der Fall gewesen
ist? Daneben sind es hauptsächlich die Kulturaufgaben,
die in den Gemeinden und Ländern leiden müssen, wenn
die Einnahmen weder vorn noch hinten reichen. Dazu
kommt, daß wir gegenwärtig eine Anzahl Monate
hinter uns haben, wo die Erwerbslosenfürsorge fast
gar keine Aufwendungen notwendig gemacht hat. In
dem Augenblick, wo eine Krise über uns hereinbricht,
werden die Erwerbslosenziffern wieder steigen, werden
die Gemeinden und Länder in noch schlimmere Zustände
kommen.
Meine Damen und Herren! Ich könnte Ihnen
von dem Elend der Gemeinden ein Lied singen. Ich
bekomme zurzeit täglich Depeschen und Briefe, daß
nicht nur Kulturfragen liegen bleiben müssen, sondern
daß auch der Wohnungsbau seinem Bankrott entgegengeht.
(Hört! Hört!)
Der Kämmerer von Jena hat in diesen Tagen bekannt
gemacht, daß die angefangenen 73 Kleinwohnungen zum
Teil liegen bleiben müssen, weil die Gemeinde nicht mehr
imstande ist, irgendwelche Mittel, auch nicht auf dem
Anleihewege, zu beschaffen.
(Hört! Hört! bei den Sozialdemokraten.)
Ich habe drei Depeschen in zwei Tagen bekommen von
größeren Gemeinden, namentlich in den Bergwerksgegenden,
wo durch Zuzug der Familien die Kinderzahl
gestiegen ist und neue Schulen gebaut werden müssen, zu
denen wir den dritten Teil von Landes wegen beitragen.
Diese Schulbauten müssen eingestellt werden, weil es
den Gemeinden, auch nicht auf dem Anleihewege, auch
nicht zu 7 Prozent Zinsen, gelingt, die Mittel dafür aufzubringen.
(Hört! Hört! bei den Kommunisten.)
So sieht es draußen aus. In dieses furchtbare Finanzelend
der Gemeinden Paßt am allerschlechtesten eine
solche Entziehung von Einnahmen hinein, wie sie durch
diese Gesetzesänderung vorgesehen ist. Ich sehe mit
Schrecken den Tag kommen, wo die Gemeinden vor der
Frage stehen: was soll werden? wo sie dahin kommen,
daß sie städtische und gewerbliche Arbeiter in größerer
Zahl entlassen müssen, weil sie nicht mehr bezahlt
werden können, und wo sie vielleicht auch die Gehälter
für Beamte und Angestellte nur noch in beschränktem
Maße werden zahlen können.
Nun wundert es mich ja immer — das hat mich
schon bei der Ermäßigung vom 20. Dezember gewundert
—, daß die Städteverbände und ebenso auch
die Beamtenorganisationen gerade die Reichssteuergesetzgebung
nicht besser verfolgen. Ich bin der
Ueberzeugung: je knapper die Einnahmen fließen
werden, desto früher werden gerade diese Körperschaften
auch die Schwierigkeiten empfinden, die für den
Mangel an Kapital und an Einnahmen bei den Gemeinden
und Ländern zutage treten müssen.
Nun wird ja gesagt, daß der Einnahmeausfall
bald ausgeglichen sein wird. Damit ist aber nichts geholfen.
Denn die Gemeinden und Länder brauchen
eben das Drei- bis Vierfache von früher. Das ist
dann nicht zu schaffen. Schuld daran ist aber dann,
daß das Reich jede Möglichkeit -er direkten Besteuerung
genommen hat. Es geht auf die Dauer
nicht an, daß der Reichstag den Ländern und Gemeinden
Einnahmen wegstreicht, ohne Ersatz oder auch
nur die Möglichkeit eines Ersatzes zu schaffen.
Wenn in dieser Beziehung auf die Änderung des
Landessteuergesetzes verwiesen wird, so weiß ich im
voraus, daß das Reichsfinanzministerium ein sehr
starkes Rückgrat gegen die Forderungen der Länder
und Gemeinden bei den kommenden Verhandlungen
haben wird. Es wird dann für die Länder und Gemeinden
auf keinen Fall ein Ersatz für das, was ihnen
jetzt genommen wird, herauskommen. Deshalb muß
in Zukunft, wenn so einschneidende Steuergesetze und
Gesetzesänderungen vorgenommen werden, mit den
verantwortlichen Ministerien der Länder und den Vertretern
der Städteverbände verhandelt werden. Erst
dann, wenn auf diese Weise eine Einigung herbeigeführt
ist, dürfen solche Änderungen vorgenommen
werden.
Ich fasse mich dahin zusammen: Die Einkommensteuer
ist nach meiner Überzeugung die ehrlichste ungerechteste
Steuer. Diese sollte jeder lieber zahlen als
irgendwelche indirekten Steuern — diese Bitte richte
ich besonders an die Linksparteien —, durch die die
ärmere Bevölkerung am härtesten und ungerechtesten
betroffen wird.
Ferner betone ich noch einmal: eine Ermäßigung
für alle Steuerzahler nützt der großen Masse nichts,
weil sie unabänderlich zur Verteuerung der Waren
führen muß, eine weitere Geldüberfüllung auf dem
Markt erfolgt und so im großen und ganzen zu weiterer
Geldentwertung und weiterem Notenumlauf führt.
Den Ländern und Gemeinden werden damit die
dringendst benötigten Einnahmen eingeschränkt, und
so ihre Zahlungsunfähigkeit beschleunigt.
Ich habe die Empfindung, daß sich alle Parteien
bei dieser Vorlage viel zu sehr von ihrem guten Herzen
leiten lassen. Gewiß weiß jeder von uns, daß, wenn
ein Familienvater mit soundso viel Kindern von seinem
Lohn einen erheblichen Steuerbetrag abliefem soll, der
Mann das als ungerecht empfindet, und daß
man ihm gern helfen möchte. Ob dieser Weg aber der
richtige ist, das bestreite ich ganz entschieden. Sie
glauben auch, mit ihrem guten Herzen durch größere
Berücksichtigung der ganzen sozialen Verhältnisse der
Familie auf diesem Wege helfen zu können. Ich bestreite,
daß das möglich ist.
Ich möchte deshalb den Reichstag dringend bitten,
solange für Länder und Gemeinden für den Einnahmeausfall,
der durch diese Änderungen herbeigeführt wird,
kein Ersatz geschaffen ist, diese Vorlage abzulehnen.
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete
Kahmann.
Kahmann, Abgeordneter:
Meine Damen und
Herren! Wir haben volles Verständnis für die ungemein
schwierige Lage, in der sich Länder und Gemeinden befinden,
und wünschen aus dem Grunde, daß, wenn
wieder an der Einkommensteuer Veränderungen
8618 Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922.
(Kahmarm, Abgeordneter.)
vorgenommen werden, das Reichsfinanzministerium vorher
Veranlassung nimmt, mit den Ländern und den kommunalen
Körperschaften engere Fühlung zu nehmen und
zu prüfen, wie den berechtigten Wünschen entgegengekommen
werden kann. Gewiß war Eile geboten, aber
durchaus nicht so große Eile, daß die in Betracht kommenden
Wünsche nicht einmal angehört werden konnten.
So bleibt uns nach dem durchaus berechtigten Klagelied,
das uns hier vorgesungen worden ist, nur übrig,
eine Regelung im Landessteuergesetz, und zwar bald,
vorzunehmen und nach Auswegen zu suchen, wie den
berechtigten Wünschen der Länder und Gemeinden, soweit
es die Finanzverhältnisse des Reiches zulassen,
entsprochen werden kann.
Noch einige Worte zu den von den Deutschnationalen
eingebrachten Anträgen. Ich bin verwundert, daß in
den Ausschußverhandlungen von solchen Anträgen absolut
nicht die Rede war, daß sie hier im Plenum erst im
letzten Augenblick eingebracht werden. Das erklärt sich
Wohl daraus, daß man sie aus rein agitatorischen
Gründen einzubringen sich veranlaßt gesehen hat;
(oho! rechts)
denn die materielle Wirkung, die damit erzielt wird, ist
eigentlich kaum der Rede wert. Die Ersparnis beläuft
sich, sofern mehr als zwei Kinder vorhanden sind, für
das Kind wöchentlich auf 3,84 Mark. Aber auch technisch
ist der Antrag kaum durchführbar oder nur dann, wenn
die Finanzbehörden und die Unternehmer in denkbar
stärkster Weise mit neuen Arbeiten belastet werden.
Wäre es den Herren darum zu tun, die unteren Schichten,
die Familien mit vielen Kindern zu entlasten, dann
hätten sie, da sie der Landwirtschaft so nahe stehen, allerbeste
Gelegenheit, darauf hinzuwirken, daß namentlich
die Preise für Milch möglichst niedrig gehalten werden,
darüber hinaus aber die Preise auch für alle sonstigen
(L) notwendigen Nahrungsmittel, für Kartoffeln, Getreide
usw., so bemessen werden, daß sie für diese
Familien erschwinglich sind. Namens der Mitglieder
der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft des
Reichstags kann ich Ihnen nur erklären, daß wir diese
Anträge ablehnen werden.
(Bravo! links.)
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete
Koenen.
Koenen, Ageordneter:
Meine Damen und Herren!
Wir müssen, da wir im Ausschuß nicht vertreten waren,
uns zunächst darüber beschweren, daß uns die Ausschußdrucksache
erst heute nachmittag unterbreitet wurde und
daß uns infolgedessen eine Stellungnahme zu dem Gesetz
im einzelnen nicht möglich ist, so daß ich mich auf einige
prinzipielle Bemerkungen beschränken muß. Ich glaube,
daß es richtig wäre, wenn sich die sozialdemokratischen
Parteien den sehr bewegten Ausführungen des thüringischen
Finanzministers anschließen würden, wenn sie insbesondere
erkennen würden, was wir in früheren Reden
zu ähnlichen Tagesordnungspunkten wiederholt gesagt
haben, daß es bei der Anpassung an die Geldentwertung
zunächst darauf ankommt, die indirekten Steuern, die
durch ihre Prozentzuschläge ganz besonders geeignet
wären, bei der Geldentwertung berücksichtigt zu werden,
in erster Linie herabzusetzen. Aber das geschieht nicht.
Der thüringische Finanzminister hat mit Recht darauf
hingewiesen, daß die Lawinensteuern, die Kohlensteuer
und die Umsatzsteuer, die die breiten Volksschichten auf
das allerempfindlichste belasten, mit der Geldentwertung
in der rasendsten Weise weiter steigen. Sie wirken
gerade jetzt bei der Geldentwertung wie Lawinensteuern.
Wenn Sie umgekehrt bei der Einkommensteuer das
Prinzip der Anpassung an die Geldentwertung durchführen
wollen, so muß ich dem Finanzminister recht
geben, daß das allerdings das ungeeignetste Objekt ist.
Wir standen schon früher auf dem Standpunkt, daß hier
nicht die einfache Anpassung an die Geldentwertung am
Platze ist, sondern daß es für die sozialdemokratischen
Parteien darauf ankommen müßte, die unteren Grenzen
steuerfrei zu machen, die unteren Einkommen von der
Steuer überhaupt zu befreien. Wenn nach oben hin,
wo mit der Geldentwertung ja auch die Gewinne steigen,
infolgedessen von einer Anpassung an die Geldentwertung
gar keine Rede sein dürfte, dieses Prinzip angewendet
wird, so am falschen Platze. Es ist sehr zu bedauern,
daß man es gerade hier anwendet, während
man das bei den indirekten Steuern, insbesondere bei
der Kohlen- und Umsatzsteuer nicht will. Das Gesetz bekommt
dadurch, daß man als Begründung anführt: Wir
müssen den kleinen Leuten entgegenkommen — einen,
man möchte fast sagen: demagogischen Charakter. Denn
tatsächlich haben ja den größten Profit von diesem
Gesetz nicht die kleinen Leute, zu deren Gunsten man es
hier angeblich machen will und zu deren Gunsten die
sozialdemokratischen Fraktionen für dieses Gesetz eintreten,
den größten Nutzen haben vielmehr die hohen
Einkommen. Das ist ja aus den Statistiken, mit denen
dieses Gesetz begleitet worden ist, ganz deutlich zu ersehen.
Wenn die Herrschaften der Rechten eine gemeinsame
Beratung aller drei Steuergesetze verlangen, so
steckt darin ein gut Stück Heuchelei. Sie wissen genau,
daß das Einkommensteuergesetz für sie ein gutes Geschäft
bedeutet. Der thüringische Finanzminister ist im Irrtum,
wenn er von dem guten Herzen spricht, das etwa
diese Herrschaften leitet. Nein, sie leitet nur der Profit.
Das werde ich im einzelnen ganz kurz zeigen müssen.
Wenn Sie aber so tun, als ob eine gemeinsame Beratung
mit der Zwangsanleihe und der Erbschaftssteuerermäßigung
unerläßlich sei, so ist das eine Art
Erpressung, die noch dazu mit der Absicht verbunden ist,
sich selbst Geschenke zuzuschanzen. Diese Geschenke bestehen
darin, daß der Steuertarif, den zu ändern wir in der
kurzen Zeit dieser Plenarverhandlungen natürlich nicht
imstande sind, keine Durchstaffelung, sondern eine Irreführung
der Bevölkerung bringt, wie sie bei allen
Steuergesetzen üblich ist. Wir müssen dagegen auf das
energischste protestieren. Die Bevölkerung ist, wenn sie
den Steuertarif liest, der Ansicht, daß tatsächlich jemand,
der eine Million steuerbares Einkommen hat, 60 Prozent
dieses Einkommens abliefert, was in Wirklichkeit gar
nicht der Fall ist. Ein ehrlich durchgestaffelter Tarif
wäre zunächst ein unbedingtes Erfordernis für eine
Änderung des Einkommensteuergesetzes. Diese Durchstaffelung
ist aber nicht erfolgt, und so kommen wir zu
der Tatsache, daß zwar unten kleine Vergünstigungen
gemacht werden, daß aber die Anpassung an die Geldentwertung
oben den besitzenden Klassen einen viel
größeren Profit gibt.
Die „Frankfurter Zeitung" hat festgestellt, daß der
ganze Vorteil bei einem Einkommen von 60 000 Mark
künftig nur 500 Mark, das heißt 0,83 Prozent bedeutet,
daß bei einem Einkommen von 80 000 Mark der steuerliche
Vorteil 2500 Mark, das heißt 3,12 Prozent ausmacht.
Da aber die Arbeiter in der größten Mehrzahl
weniger als 80 000 Mark, sogar weniger als 60 000 Mark
im Jahre haben, müssen sie sich mit einem Vorteil von
3,12 und sogar nur 0,83 Prozent begnügen. Dagegen
machen Einkommen von 200 000 Mark bereits einen
Gewinn von 18 000 Mark im Jahre, das heißt von
9 Prozent. Bei einem Einkommen von einer Viertelmillion
beläuft sich das Geschäft bereits auf 23 250
Mark, das heißt 9,3 Prozent, während ein Prolet durch
das gute Herz, von dem der thüringische Finanzminister
Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922. 8619
(Koerrer», Abgeordneter.)
sprach, noch nicht ganz 1 Prozent zugewendet bekommt.
Das ist ein feines Geschäft, und vom guten Herzen kann
man hier wahrlich nicht mehr reden, sondern nur von
der schwarzen kapitalistischen Seele, die dieses Gesetz
schafft, um sich hohe Profite in die Taschen zu bringen.
Diese hohen Gewinne halten an bis zu einem Einkommen
von ungefähr 600 000 bis 800 000 Mark. Erst
bei mehr als einer Million werden schließlich nur
4 Prozent und 3 Prozent den Herrschaften zugeschanzt,
immerhin noch mehr als dem einfachen Arbeiter, der nur
4/5 Prozent seines steuerbaren Einkommens erspart.
Man soll uns also nicht damit kommen, daß man
etwa hier den Arbeitern eine ganz besondere Erleichterung
zuwende. Die Erleichterung ist nur für die Besitzenden
fühlbar, die mehr als 100 000 oder 200 000
Mark Einkommen haben. Das haben wir zunächst gegenüber
diesem Gesetz auszuführen.
Wir machen darauf aufmerksam, daß dieselben
Ausführungen, die wir jetzt hier machen müssen, schon
bei der vorigen Einkommensteuergesetznovelle vom
Dezember notwendig waren, die dann im Januar nach
dem Eisenbahnerstreik noch einmal hier zur Erörterung
stand. Damals machten wir die Sozialdemokratische
Fraktion darauf aufmerksam, daß der Eisenbahnerverband
es war, der ausdrücklich feststellte, daß bei den
niederen Einkommen fast gar keine Erleichterungen eingetreten
sind, die Empfänger von großen Einkommen
dagegen durch diese Angleichung an den Geldwert Zuwendungen
erhalten, die das Einkommen eines unteren
Beamten ausmachen. Der Eisenbahnerverband erklärte
damals: diese Verbesserungen betragen bei einem —
damaligen — Jahreseinkommen unter 24 000 Mark fast
nichts; sie sind kaum fühlbar; aber bei Einkommen von
100 000 Mark in der Besoldungsgruppe XIII beträgt die
Verbesserung rund 17 000 Mark. Er fügte hinzu: diese
wenigen Zahlen wirken geradezu aufreizend; denn den
höheren Beamten wird an Steuerersparnis jährlich so viel
geschenkt, wie ein Diätar an Gesamteinkommen hat. Dasselbe
Spiel wird bei der Staffelung, die uns jetzt vorliegt,
wiederum getrieben.
(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)
Ich warne Sie dringend davor, das Spiel fortzusetzen
und sich so irre führen zu lassen, wie es der thüringische
Finanzminister tat, und vom guten Herzen zu reden.
Hier wütet nichts anderes als die schwarze, profithungrige
Seele der Kapitalisten, die sich durch dieses Gesetz
wiederum einen ganz besonderen Vorteil zuschanzen wollen.
Wenn Sie eine gute Seele haben, dann beweisen Sie das
bitte durch die Änderung des Umsatzsteuergesetzes, durch
die Änderung des Kohlensteuergesetzes. Da könnten Sie
wirkliche Erleichterungen für die besitzlosen Klassen schaffen.
Ich glaube, daß es noch einen anderen Weg gäbe,
um das gute Herz zu betätigen. Ich machte schon
früher darauf aufmerksam, daß in England Leute mit
einem Einkommen bis zu 3000 Schilling — das ist eine
Summe, die heute fast 200 000 Mark ausmachen würde
— frei von der Einkommensteuer find. Wollten sie wirklich
das gute Herz betätigen, dann müßte man in
Deutschland dazu kommen, nicht 10 Prozent bei Einkommen
bis zu 100000 Mark zu erheben, sondem alle
Einkommen unter 100000 Mark steuerfrei zu lassen.
Wenn Sie einen solchen Beschluß faßten, dann brauchten
Sie die Komödie der Anpassung an die Geldentwertung
gar nicht erst aufzuführen, und Sie hätten wirklich etwas
getan, um den Arbeitern und Angestellten ein Entgegenkommen
zu zeigen, wie es der Etsenbahnerverband beim
Eisenbahnerstreik im Januar gefordert hat. Aber dieses
Entgegenkommen zeigt man nicht, sondern man macht
wieder am § 46 einige Flickschustereien, um so zu tun,
als hätte man ein Entgegenkommen gezeigt.
Eine andere Möglichkeit den Arbeitern und
Angestellten entgegenzukommen, enthält § 46 in seinem
ersten Absatz. Wir haben wiederholt darauf hingewiesen,
daß die Arbeiter durch die Bestimmung des § 46 Abs. 1
gezwungen werden, im Gegensatz zu der besitzenden Bevölkerung
dem Reich auf Vorschuß ihre Steuern zu zahlen.
Die vorliegende Novelle ändert an diesem Zustande
wiederum nichts. Wir müssen sagen: will man ein Entgegenkommen
zeigen, dann soll man endlich diesen Absatz
streichen und dafür sorgen, daß das Ausnahmegesetz gegen
die Arbeiter, das der erste Absatz des § 46 des Einkommensteuergesetzes
bedeutet, beseitigt wird. Denn durch
diese Bestimmung werden die Arbeiter gezwungen, auf
Vorschuß ihre Steuern zu zahlen, während die Besitzenden,
wie wir wiederholt festgestellt haben, jahrelang ihre
Steuern schuldig bleiben. Der Erfolg dieses § 46 ist der,
daß die Arbeiter zum vollen Kurs ihr Geld hergeben
müssen, während die Besitzenden erst nach zwei und drei
Jahren endlich ihre Einkommensteuern zahlen und dann
inzwischen ein sehr gutes Valutageschäft gemacht haben.
Sie zahlen ihre Steuern, die sie im Jahre 1920 oder
1921 hätten zahlen müssen, nachdem sie schon soundsoviel
mal reklamiert und soundso viel mal gemogelt haben,
(Zuruf im Zentrum: Habt Ihr Erfahrung darin?)
erst dann, wenn inzwischen die Valuta so sehr gesunken
ist, daß sie tatsächlich nur noch den vierten oder fünften
Teil des Wertes bezahlen, den sie dem Reich schuldig
sind. Das haben wir wiederholt rechnerisch nachgewiesen,
und Sie als christlicher Arbeitervertreter (zum Zentrum
gewandt) sollten sich auch einmal um diese Angelegenheit
kümmern. Aber das paßt Ihnen nicht in den Kram!
Wenn Sie das ehrlich Ihren Arbeitern sagen müßten,
müßten Sie zugeben, daß Sie hier Gesetze zugunsten der
Besitzenden und gegen die Arbeiter machen.
(Erneuter Zuruf im Zentrum.)
Wir haben wiederholt solche Feststellungen gemacht
und müssen sie, nachdem Sie wiederum den Besitzenden
gegenüber ein Entgegenkommen zeigen wollen, wiederholen.
Sie als christlicher Arbeitervertreter werden jetzt dafür
stimmen, daß der Arbeiter, der unter 60 000 Mark Einkommen
hat, 500 Mark Nachlaß erhält, daß aber der
Besitzende, der 1/4 Millionen Mark hat, einen Profit
von 23 500 Mark macht. Das nennen Sie dann alles
christliche Nächstenliebe und soziale Gerechtigkeit!
(Lachen.)
Wir beantragen, um den Arbeitern bei dieser Gelegenheit
offen und ehrlich ein Entgegenkommen zu zeigen,
den ersten Absatz des § 46, der die Zwangszahlung und
Vorschußzahlung bei Arbeitern und Angestellten verlangt,
zu streichen. Wenn Sie diesen Antrag annehmen, würden
Sie damit deutlich zeigen, daß Sie den Arbeitern gegenüber
ein Entgegenkommen beweisen wollen.
Am Schlusse noch eine Bemerkung darüber, wie die
Industrie es versteht, aus diesen ganz winzigen Steuerermäßigungen,
die Sie für die Arbeiter durchführen —
500 Mark im ganzen Jahre bei 60000 Mark Einkommen —,
noch ihren besonderen Profit zu ziehen. Nach der letzten
Änderung des Steuergesetzes hat am 31. Januar die
nordwestdeutsche Gruppe des Vereins deutscher Eisen und
Stahlindustrieller ein Rundschreiben herausgegeben,
in dem sie genau auf Heller und Pfennig ausrechnet, wie
viel die Ermäßigung der damaligen Steuersätze und die
Anpassung an die Geldwerte für den einzelnen Arbeiterlohn
ausmacht. In diesem Rundschreiben heißt es-:
Die Steuerermäßigung ist also gleichzusetzen einer
Erhöhung des Stundenlohnes um 20 Pfennig,
einer Erhöhung des Frauengeldes um 40 Pfennig
und des Kindergeldes um 60 Pfennig pro Tag.
Die Industriellen rechnen also hier in Pfennigbeträgen
8620 Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922.
(Koenen, Abgeordneter.)
die Steuerermäßigung aus und versenden Rundschreiben
an die angeschlossenen Firmen mit folgender
Mitteilung:
Wir bitten Sie, diese Tatsache bei etwaigen
Lohnverhandlungen zu benutzen.
Es steht also fest, daß dieses kleinste, allerwinzigste Entgegenkommen,
das durch dieses Gesetz den Arbeitern gezeigt
wird, durch die Unternehmer bei den nächsten
Lohnverhandlungen wieder ausgeglichen wird,
(hört! hört! bei den Kommunisten)
so daß letzten Endes sich die Arbeiter bei allen diesen
Reformen die Nase wischen können. Eine weitere Verelendung
der Arbeiter auf der einen Seite setzt ein, auf
der anderen Seite aber eine weitere Bereicherung der Besitzenden,
derjenigen, die Millionen an Einkommen haben.
(Sehr wahr! bei den Kommunisten.)
Wir machen dringend auf die schweren Schädigungen aufmerksam,
die das Gesetz mit sich bringen muß, und ersuchen,
zum mindesten der Streichung des § 46 Abs. 1
zuzustimmen, damit wenigstens der Vorschußzahlung für
die Arbeiter endlich ein Ende gemacht und diese Ausnahmebestimmung
gegen die Arbeiter beseitigt wird.
(Bravo! bei den Kommunisten.)
Präsident: Das Wort hat Herr Abgeordneter
Hartwig.
Hartwig, Abgeordneter:
Meine Damen und Herren!
Dem Herrn Kollegen Kahmann muß ich wegen seiner Behauptung,
daß unsere Anträge aus rein agitatorischen
Gründen heraus gestellt worden seien, entgegentreten. Ich
gebe durchaus zu: im Ausschuß habe ich diese Anträge
nicht gestellt. Ich bin erst heute in meiner Fraktion
mit dem Antrag hervorgetreten, den kinderreichen Familien
auf irgendeine Weise noch zu helfen, und zwar deshalb,
weil gerade in den letzten 8 Tagen eine Reihe von
Eltern mit ihren sehr dringenden Wünschen an mich herangetreten
sind, und weil gerade in der letzten Zeit die Not
so furchtbar gestiegen ist. Ich bedaure außerordentlich,
daß Herr Kollege Kahmann es fertig bringt, mir solche
Motive zu unterstellen. Ich muß dagegen aufs entschiedenste
protestieren. Ich habe das ganze Haus gebeten,
in dieser Frage nur eine Partei zu sein. Es wäre dringend
wünschenswert gewesen, bei dieser Gelegenheit alle
Parteigegensätze zurückzustellen.
Wenn Herr Kollege Kahmann sagt, daß die Sozialdemokratische
Arbeitsgemeinschaft geschlossen gegen unsern
Antrag stimmen würde, dann beginnt sie ihre parlamentarische
Existenz mit einer Leistung, die in der Öffentlichkeit
wohl kaum Verständnis finden wird.
(Zuruf von den Sozialdemokraten.)
— Das will ich gern tun; diese Leistung überlasse ich
Ihnen gern.
Daß man in Ihrer Partei, Herr Kollege Kahmann,
sehr wohl anderer Meinung sein kann, beweist ein Schreiben,
das unser verehrter Herr Präsident an den Bund der
Kinderreichen vor kurzem gerichtet hat; er schreibt:
Dem Bund der Kindereichen.
Ich würde Ihnen dankbar sein, wenn Sie mir
etwaige Beschlüsse der Versammlung zur Kenntnis
bringen würden; denn daß bei der heutigen
ungeheuerlichen Teuerung gerade die kinderreichen
Familien am furchtbarsten leiden und die Gesetzgebung
hier auf einen Ausgleich bestehen muß,
scheint mir dringend notwendig.
Wenn der Herr Präsident Löbe auf diesem Standpunkt
steht, dann, glaube ich, darf ich mir wohl erlauben, das
hohe Haus aufzufordem, unserem Antrag beizutreten.
Damit ist auch der Vorwurf gerichtet, den der Herr
Abgeordnete Kahmann gegen mich erhoben hat.
(Bravo! bei den Deutschnationalen.)
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hertz.
Dr. Hertz, Abgeordneter:
Wäre der Notstand so
dringend, den der Herr Abgeordnete Hartwig als Ursache
dieses deutschnationalen Antrages hinstellt, dann wäre es
ja sehr erstaunlich, daß die Herren während der beiden
Lesungen, die über das Einkommensteuergesetz im Ausschuß
stattgefunden haben, und die durchaus genügend
Zeit für eingehende Beratungen ließen, nicht von selbst
auch dort auf die Notwendigkeit hingewiesen haben. Daß
sie jetzt im Plenum, nachdem die Beratungen im Ausschuß
abgeschlossen sind, mit einem solchen Antrag hervortreten,
vermag uns nicht davon zu überzeugen, daß nur rein
sachliche Gründe für die Stellung dieses Antrages in
diesem Augenblick maßgebend waren.
Zu den Ausführungen des Herrn Abgeordneten
Koenen möchte ich nur wenige Sätze sagen. Seinen Antrag,
den § 46 des Einkommensteuergesetzes zu streichen
(Zuruf von den Kommunisten: Absatz 1!)
beziehungsweise den Abs. 1, lehnen wir ab. Wir müssen
diesen Antrag ablehnen, weil er sich in seiner Wirkung
gegen die Arbeiterklasse wenden würde. Die Steuerpflicht
der Lohn- und Gehaltsempfänger beseitigt er nicht, denn sie
ist festgelegt durch § 26. Er würde nur bedeuten, daß in
das jetzt geordnete Verfahren des Lohnabzugs eine völlige
Unsicherheit hineingetragen würde, daß an Stelle der geordneten
Ablieferung der von den Arbeitern zu zahlenden
Steuerbeträge die Notenpresse in weitere und schnellere
Wirksamkeit versetzt würde, die viel schärfere und unsozialere
Folgen gerade für diesen Teil unserer Bevölkerung
zutage fördern würde, als das jetzt der Fall ist.
Zu den übrigen Ausführungen des Herrn Abgeordneten
Koenen bezüglich der Ergebnisse der Ausschußberatungen
nur einige Worte! Seine Darlegungen beruhen
auf einem sehr einfachen Rechenfehler. Der Herr Abgeordnete
Koenen hat nämlich bei seiner Berechnung vollkommen
übersehen, welche Ermäßigung für die unteren
Etnkommensteuerstufen durch die Heraufsetzung der steuerfreien Beträge
einsetzt. Ich will nur darauf hinweisen, daß bei
einem Einkommen von 50000 Mark und einem Familienstand
von Mann, Frau und zwei Kindern die abzugsfreien Beträge
bisher 17400 Mark betrugen, daß sie bei der neuen Novelle
auf 39 600 Mark steigen. Das bedeutet, daß an die
Stelle eines Lohnabzugs von bisher 6,52 Prozent ein
solcher von 2,8 Prozent tritt, also ein Minus von
4,44 Prozent und nicht von 0,83 Prozent, wie der Abgeordnete
Koenen meinte.
(Hört! Hört! rechts.)
Wir haben keinen Zweifel daran gelassen, daß wir die
Milderung des Steuertarifs auch bei den hohen Etnkommenempfängern
durchaus nicht billigen, wie das unser
ursprünglicher Antrag zeigt. Aber wir haben zu wählen
zwischen der Milderung der Einkommensteuer überhaupt
oder der Ablehnung einer solchen Milderung; und in dieser
Situation entscheiden wir uns gemäß dem immer von uns
vertretenen Standpunkt für das kleinere Übel.
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete
Koenen.
Koenen, Abgeordneter:
Ich möchte gleich eingangs
feststellen, daß sich die Parteien nicht für das kleinere
Übel entscheiden, sondern für die größeren Geschenke an
die großen Einkommen. Denn auch nach der Berechnung
des Herm Abgeordneten Hertz, der hier ausdrücklich feststellte,
daß 4,44 Prozent — das ist wahrscheinlich die
günstigste Berechnung, die er aufmachen konnte — den
Arbeitern als Entgegenkommen gewährt werden, stehen
Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922. 8621
(Koenen, Abgeordneter.)
dem bei den Höheren Einkommen unwidersprochen acht
und neun Prozent gegenüber.
(Abgeordneter Dr. Helfferich: Ziehen Sie einmal von
4,5 Prozent 9 Prozent ab! — Heiterkeit.)
— Auch prozentual wird den Besitzenden der doppelte
Betrag gewährt.
(Lebhafter Widerspruch rechts und bei den Sozialdemokraten.)
Jetzt aber kommt in Betracht, daß die Höhe der
Beträge, die den Herrschaften zufließen, die Tausende,
das Entscheidende sind, also nicht so sehr das
prozentuale Verhältnis als die Tatsache, daß Zehntausende
von Mark den Besitzenden zugewendet werden.
Wenn aber jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Hertz vor der
Notenpresse Angst hat, so sage ich: nicht durch die Ermäßigungen,
die Sie unten einführen, sondern durch die
Ermäßigungen, die Sie oben einführen, fördern Sie die
Gefahr, daß die Notenpresse in stärkerem Maße tätig sein
muß. Man müßte mit aller Rücksichtslosigkeit die Ermäßigungen,
die für die Besitzenden eintreten, bekämpfen,
wenn man keinen schnelleren Gang der Notenpresse wollte.
Aber dieser schnellere Gang der Notenpresse muß immer
dann herhalten, wenn es gegen die Arbeiter geht. Gegen
die Besitzenden wird dieses Argument nicht angewandt.
Nun das letzte Argument. Der Herr Abgeordnete
Dr. Hertz meint, man müßte diesem Gesetz deswegen zustimmen
und dürfe den Abs. 1 des § 46 nicht streichen,
weil die Unsicherheit der Steuereinziehung an die Stelle
des geregelten Verfahrens trete. Also geregeltes Berühren,
rücksichtsloses Verfahren gegen die Arbeiter, aber
Insicherheit gegenüber den Besitzenden. Wie das vom
sozialdemokratischen Standpunkt aus gerechtfertigt werden
soll, ist mir unerfindlich. Andererseits aber ist ganz
klar, daß das Argument, das die Unsicherheit eintreten
würde, bei den Arbeitern angewandt wird, daß
man aber aus diesem Argument nicht die Folgerung zieht,
mit ebenso rücksichtslosen Mitteln auch gegen die Besitzenden
vorzugehen. Sie wissen, welche Drückebergerei die Besitzenden
getrieben haben. Sie wissen, wie sie jahrelang
ihre Steuern schuldig geblieben sind. Sie wissen ganz
genau, daß nichts getan wurde, um von ihnen schneller
die hohen Zahlungen hereinzubekommen.
Also nur gegen die Arbeiter gilt dieses Argument,
während Sie nicht verstehen, es gegenüber den Besitzenden
anzuwenden. Und da Sie es einseitig anwenden, so
können wir dieses Argument nicht anerkennen.
Präsident: Das Wort hat der Herr Abgeordnete
Dr. Hertz.
Dr. Hertz, Abgeordneter:
Meine Herren! Nur einen
Satz! Ich glaube zwar, in der Richtigkeit des Rechnens
dem Herrn Abgeordneten Koenen überlegen zu sein. Ich
gebe ihm aber ohne weiteres zu, daß ich den Wettkampf
mit ihm aufgeben muß, da er unbestritten in der Fixigkeit
des Falschrechnens einen ungeheuren Vortritt hat.
(Heitere Zustimmung.)
Präsident: Weitere Wortmeldungen liegen nicht
vor. Wir kommen zur Abstimmung.
Die Debatte hat über den Art. I stattgefunden. Zu
der Ziffer 1, die dazu gehört, sind Anträge nicht gestellt.
Ich darf diese Ziffer für angenommen erklären.
Zu der Ziffer 2 ist nur eine redaktionell andere
Fassung von Herrn Kollegen Merck beantragt, nämlich
unter g soll es nicht heißen wie in der gedruckten Vorlage,
sondern es soll heißen:
Im § 13 wird folgende Vorschrift als Abs. 3
eingefügt:
die Abzüge gemäß Abs. 1 Nr. 5 und 5a
dürfen zusammen den Betrag von 8000 Mark
jährlich nicht übersteigen.
Es ist das nur eine redaktionelle Änderung, die den Sinn
des Paragraphen klarer hervorhebt. Ich nehme an, daß
das Haus dieser Änderung zustimmt. — Das ist der Fall.
Ziffer 2 ist mit der Änderung angenommen.
Ich rufe auf Ziffer 3, die den § 21 betrifft. Hier
ist von dem Herrn Abgeordneten Koenen eine getrennte
Abstimmung für die einzelnen Staffeln beantragt, und
zwar in der Weise, daß zunächst über den Satz abgestimmt
wird:
Die Einkommensteuer beträgt für die ersten angefangenen
oder vollen 100 000 Mark des steuerbaren
Einkommens 10 vom Hundert,
daß das übrige dann getrennt abgestimmt wird.
Ich bitte also die Damen und Herren, welche dem
von mir vorgelesenen ersten Satz des § 21 zustimmen
wollen, sich vom Platze zu erheben.
(Geschieht.)
Das ist die Mehrheit; er ist angenommen.
Nunmehr bitte ich die Herren, welche für die übrigen
Absätze des § 21 stimmen wollen, also für die höheren
Einkommen, sich zu erheben.
(Geschieht.)
Das ist auch die Mehrheit; der Rest des § 21 ist angenommen.
Zu Ziffer 4 liegt der erste der Anträge des Herrn
Kollegen Hartwig auf Drucksache Nr. 4790 Ziffer 1 vor.
Ich bitte diejenigen Damen und Herren, die diesem Antrage
zustimmen wollen, sich zu erheben.
(Geschieht.)
Das ist die Minderheit; er ist abgelehnt.
Ziffer 4 ist genehmigt.
Zu Ziffer 5 sind keine Anträge gestellt; er ist genehmigt.
Ziffer 6 betrifft den § 46. Hierzu liegen zwei
Anträge vor. Ein handschriftlicher Antrag Koenen: „Der
Abs. 1 des § 46 ist zu streichen", und der zweite der
Anträge des Herrn Abgeordneten Hartwig auf Nr. 4790
der Drucksachen.
Ich bitte zunächst diejenigen Damen und Herren,
die dem Antrage Koenen zustimmen wollen, sich zu erheben.
(Geschieht.)
Das ist die Minderheit; er ist abgelehnt.
Ich bitte nun diejenigen, welche dem Antrage
Hartwig auf 4790 Ziffer 2 zustimmen wollen, sich zu
erheben.
(Geschieht.)
Der Antrag ist abgelehnt, weil die Minderheit steht.
Ziffer 6 ist angenommen.
Ich rufe auf Ziffer 7, — 8, — 9. — Angenommen.
Zu Art. II sind Anträge nicht gestellt. Ich darf
ihn für angenommen erklären.
Zu Art. III liegt der Antrag Herold, ten Hompel
auf Drucksache 4785 vor, der über die einheitliche
Erledigung der Steuergesetze handelt. Ich bitte diejenigen
Damen und Herren, die diesem Antrage zustimmen wollen,
sich vom Platze zu erheben.
(Geschieht.)
Das ist die Mehrheit; der Antrag ist angenommen und
mit diesem Zusatze der Art. III.
Ich rufe auf Einleitung und Überschrift — und erkläre
sie für angenommen.
Ich eröffne die Debatte über die Petitionen, —
schließe sie, da Wortmeldungen nicht vorliegen. Die Abstimmung
erfolgt in dritter Lesung.
Damit ist die zweite Beratung des Gesetzes erledigt.
Ich rufe auf den nächsten Gegenstand der Tagesordnung:
zweite Beratung des von den Abgeordneten
Dr. Curtius, Dr Becker (Hessen)
8622 Reichstag. — 252. Sitzung. Sonnabend den 15. Juli 1922.
(Präsident.)
und Genossen eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Erbschaftssteuergesetzes
(Nr. 4479 der Drucksachen)
in Verbindung mit der
zweiten Beratung des von den Abgeordneten
Hergt und Genossen eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Erbschaftssteuergesetzes
(Nr. 4480 der Drucksachen).
Mündlicher Bericht des 11. Ausschusses
(Nr. 4767 der Drucksachen).
Berichterstatter: Abgeordneter Dr. Curtius.
Als Kommissare sind angemeldet:
Ministerialdirektor Dr. Popitz,
Ministerialräte Kuhn, Dr. Dorn, Dr. Zarden,
Oberregierungsrat Dr. Pissel,
Regierungsräte Vogt, Weltzten, vr. Rosenbauer.
Zur Geschäftsordnung hat das Wort der Herr Abgeordnete
Koenen.
Koenen, Abgeordneter: Ich bitte jetzt das Haus,
sich zu vertagen, da es nicht möglich ist, zu einem so
komplizierten Gesetz wie der Erbschaftssteuer in dieser
vorgerückten Stunde noch Stellung zu nehmen. Uns
scheint die Erbschaftssteuer sehr geeignet, ausgebaut zu
werden. Da wir an den Ausschußberatungen nicht teilnehmen
konnten und es uns in der kurzen Zeit nicht
möglich war, die entsprechenden Anträge vorzulegen,
raten wir dringend, um höhere Beträge aus der Erbschaftssteuer
im Interesse des nahezu bankerotten Reichs
herausholen zu können, diesen Tagesordnungspunkt in
dieser vorgerückten Stunde nicht zu behandeln.
Präsident: Es ist ein Antrag auf Vertagung gestellt.
Derselbe bedarf der Unterstützung von 30 Mitgliedern des Hauses.
(Heiterkeit.)
Ich bitte die Damen und Herren, die für Vertagung
stimmen, sich zu erheben.
(Geschieht. — Heiterkeit.)
Die Unterstützung reicht nicht aus.
Wir treten in die Beratung ein. Das Wort hat der
Berichterstatter, Herr Abgeordneter Dr. Curtius.
Dr. Curtius, Abgeordneter, Berichterstatter:
Meine Damen und Herren! Ich kann mich wirklich kurz fassen.
Ich hatte vom 11. Ausschuß den Auftrag, einen ausführlichen
mündlichen Bericht zu erstatten. Damals gingen
wir davon aus, daß wir bereits am Sonntag auseinandergehen
würden. Nun hat sich die ganze parlamentarische
Lage inzwischen verschoben. Es ist sicher, daß
wir bis zum Dienstag tagen werden. Unter diesen Umständen
hat der Vorsitzende des 11. Ausschusses beschlossen,
eine neue Sitzung auf Dienstag morgen einzuberufen,
um einen schriftlichen Bericht über die Erbschaftssteuer
festzustellen. Ich kann daher heute darauf
verzichten, einen mündlichen Bericht zu erstatten. Ich
empfehle namens des Ausschusses die Vorlage zur
Annahme.
(Beifall.)
Präsident: Weitere Wortmeldungen zu Art. 1
liegen nicht vor.
(Zuruf von den Kommunisten.)
Der Herr Abgeordnete Heydemann hat das Wort.
Hehdemann, Abgeordneter:
Meine Damen und
Herren! Ich glaube, es ist nicht nötig, sich vorzubereiten,
um auch bei dieser Gelegenheit auf Grund der Erbschastsfteuerpolitik
Ihnen einmal zu zeigen, in welcher
Weise auch heute noch, um mich eines Ausdrucks des
Abgeordneten Helfferich zu bedienen, die Scham scheinbar
verloren gegangen zu sein scheint.
(Heiterkeit.)
Vor drei Wochen haben Sie anders hier gestanden,
und wenn Sie nicht bloß leere Worte machen wollten,
sondern wenn Sie so, wie Sie es mit den Lippen bekannt
haben, den Toten mit seinen eigenen Ideen ehren
wollten, dann würden Sie gerade hier die Worte und
Gedanken Walther Rathenaus, der bereits während der
Kriegszeit gegenüber dieser einzigen in der Welt dastehenden
Steuerpolitik, die wir in Deutschland in der
Besteuerung der Erbschaften erlebt haben, seine Stimme
erhoben hat, in die Tat umsetzen. Ich will nicht
darauf eingehen, wie in den Jahren 1908 und 1909 es
geradezu zu einem Weltkulturskandal geworden war, wie
Ihre Steuerscheu und Ihre Steuerdrückebergerei derartige
Orgien feierte, daß die damaligen Wulle-Leute in
der konservativen Partei ihre anständigeren Elemente,
wie es dem alten greisen Professor Adolph Wagner begegnet
ist, direkt niederbrüllten.
Vergleichen Sie die Zahlen, die in dem Steuergesetz
vom September 1919 als Tarifzahlen vorliegen mit den
jetzigen Tarifzahlen des § 28 der Vorlage, wie sie aus
dem Ausschuß hervorgegangen ist. Sie werden zum
mindesten auf der Linken alle mit mir einer Meinung
sein müssen, daß es angesichts der furchtbaren finanziellen
Misere, daß es inmitten der immer mehr zunehmenden
Not der breitesten Schichten unseren Volkes
unerhört ist, diese Steuerquelle immer mehr versiegen zu
lassen. Am Freitag vor drei Wochen, als der Herr Abgeordnete
Helfferich hier seine Rede über die Scham,
über den Staatsgerichtshof und über die Verachtung, die
keine Worte habe, hielt, hat der Abgeordnete Höllein bereits
auf den ungeheueren Unterschied in der Erbschaftsbesteuerung
zwischen England und Deutschland, nicht
nur während der Kriegszeit, sondern bis auf den
heutigen Tag, hingewiesen.
Während sich in der Kriegszeit sämtliche sozialdemokratischen
Vertreter im Reichstage für einen Ausgleich
dieses Gegensatzes einsetzten, sehen heute die
Sozialdemokraten diese Ungerechtigkeit ruhig mit an.
In England ging bereits Jahr für Jahr eine Milliarde
an Erbschaftssteuern ein, während es trotz aller Kämpfe
der Jahre 1908 und 1909 und trotz der Erbschaftssteuer
von 1912 bis in das dritte Kriegsjahr hinein nicht
möglich war, mehr als 60 Millionen Mark aus der Erbschaftssteuer
in Deutschland herauszuholen.
Damals war die Linke übereinstimmend der Überzeugung,
daß dem heuchlerischen Gerede der Konservativen
gegenüber endlich dem Übel an die Wurzel
gegangen werden müsse. Die Konservativen sprachen
von den beiden Grundlagen der Gesellschaft, der
Familie und dem Eigentum, die durch die Erbschaftssteuer
gefährdet seien. Diesem Gerede gegenüber ist
damals vom Abgeordneten Keil und anderen darauf
hingewiesen worden, daß es volkswirtschaftlich, finanzpolitisch
und sozial von der größten Bedeutung sei,
gegen die Züchtung von Parasiten vorzugehen, die
auch in der Not schwerster Zeit glauben, Rechte
geltend machen zu können, um ohne Arbeit durch den
Schweiß anderer Leben zu können.
Jetzt erleben wir, daß es der Besitz in noch viel
groteskerer Form als bei der Einkommensteuer verstanden
hat, im Ausschuß seine Interessen zu vertreten.
Die Erbschaftssteuer ist verwässert. Im Jahre 1919
wurde ein Vermögen von 1 Million immerhin in der
Steuerklasse 1 noch mit 35 Prozent Steuer belegt,
während man jetzt nur noch 17,5 Prozent erheben will.
Wenn man die irreführenden Tabellen mit den Grundsteuern
von 3,5 bis 14 Prozent, je nach den ver-