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Auszug aus:

»Reise nach Dresden und in die Sächsische Schweiz«

von Hans Christian Andersen

Wolfgang Jess Verlag / Dresden 1947

(gesperrt gedrucktes wurde mit Fettdruck ersetzt)

Nach einem Aufenthalte von drei Tagen verließ ich das freundliche Leipzig, wo ich mehrere vortreffliche Menschen hatte kennenlernen.[sic!]

Es war schon dunkel, als wir bei dem Jagdschloß Hubertusburg mit seinem großen Garten vorbeifuhren. Mengs Pinsel soll viele Fremde nach der Schloßkapelle hinlocken; wir hatten keine Zeit, auch keinen Mangel an Bildern; ein Bild wechselte mit dem andern, wenn wir durch die Wagenfenster hinaussahen. Hier ein Wirtshaus mit Reisenden, der Hausknecht mit der brennenden Laterne in der Tür, - das war ein Nachtstück in Rembrandtscher Manier; dort sah man eine sumpfige Gegend in Morgenbeleuchtung, einige wilde Enten plätscherten im grünen Schilfe, eine Manier, die Ruysdael nachzuahmen pflegt; weiterhin lag ein Flecken mit eingestürzten Mauern; im Vordergrunde, unter einem großen Baume, saßen ein Paar junge Leute und küßten sich, - das war eine Manier, die ich selbst gern hätte nachahmen mögen.

Je näher wir Meißen kamen, ein um so mehr romantisches Aussehen bekam die Gegend. Hin und wieder sah man Felsen sich erheben, mit einem ganz andern Charakter, als die im Harz. In rotgelben Steinmassen, mit jungen Buchen bewachsen, hingen sie über unsern Häuptern; auf der andern Seite des Weges lagen die grünen Weinberge mit den roten Weinbergshäuschen, und unten schlängelte sich die Elbe in malerischen Krümmungen. Schiffe wurden von Menschen und Pferden den Fluß hinaufgezogen, während andere mit schwellenden Segeln stromabwärts fuhren.

Meißen selbst hat enge Straßen und sah mir recht unheimlich aus; man muß es hier wie mit jedem schönen Gemälde machen, die Augen nicht allzu nahe daran halten.

Der Dom ist ein herrliches, gotisches Gebäude. Die Sonne schien in die hohen Fenster hinein, wo ein kleiner Vogel, der sich verirrt hatte, umherflatterte und mit den Flügeln an die Fensterscheiben schlug, um herauszukommen. Da sah ich meine eigene Kinderwelt! Die Kindheit ist auch eine solche heilige, große, gotische Kirche, in welche die Sonne freundlich durch bunte Fensterscheiben scheint, wo ein jeder dunkle Winkel ein mächtiges Gefühl erweckt, und wo das einfachste Bild durch seine Beleuchtung und durch die Sage eine weit tiefere Bedeutung bekommt. Das Alltagsleben zeigt sich hier in seinen Sonntagskleidern, Gott und die Welt liegen einander weit näher, und doch flattert das Herz, wie der kleine Vogel hier in der Kirche, nach der neuen, draußen liegenden Zukunft, wo vielleicht ein Jäger hinter einem Gebüsch lauert, ihm durch die Flügel zu schießen.

Der Weg von Meißen nach Dresden ist mit Akazien und Birnbäumen bepflanzt; auf den Feldern stehen Kohl und Kartoffeln; es ist ein wahrer Küchengarten! Freundliche Anhöhen, mit Wein und Laubholz bewachsen, liegen an beiden Seiten, und hinten bildet Meißen selbst, das mit seinem Schloß und Dom sehr hoch liegt, den herrlichsten Punkt in dem ganzen Gemälde; außerhalb der Stadt führt eine steinerne Brücke über die Elbe, wo Menschen gehen und fahren, ohne daran zu denken, viel weniger noch sich darauf etwas zugute zu tun, wie sie gerade dadurch das ganze beleben.

Je weiter man sich von hier entfernt, desto höher werden die Berge, und bald sieht man wie durch einen Schleier das deutsche Florenz, Dresden, mit seinen Türmen und Kuppeln vor sich liegen.

Blick auf Dresden, Künstler unbekannt

Als ich nach der Augustusbrücke kam, die ich schon so gut aus Kupferstichen und Gemälden kannte, kam es mir vor, als ob ich schon früher einmal im Traum hier gewesen wäre. Die Elbe wälzte ihre gelben Wellen unter den stolzen Bogen durch; auf dem Fluß war viel Leben und Treiben, aber weit mehr noch auf der Brücke; auf der Mitte jagten Wagen und Reiter, und auf beiden Seiten ging eine Masse Fußgänger im buntesten Wechsel; ungefähr mitten auf dem Fluß stand auf einem der Ausbaue, welche die einzelnen Pfeiler bilden, ein Kruzifix von Metall. - Nun kamen wir nach der Altstadt, dem eigentlichen Dresden; die Brühlsche Terrasse mit ihrer breiten Treppe lag links, die katholische Kirche rechts und gerade vor uns das Tor, durch das wir in die eigentliche Stadt hineinfuhren.

Dresden steht als Übergangspunkt in der Mitte von Nord- und Süddeutschland da und hat auch einen gemischten Charakter von beiden. Es war die letzte große Stadt, die ich nach Süden zu in Deutschland zu sehen bekommen sollte; dieser Gedanke fiel mir ein und war die Ursache, daß ich ganz wehmütig gestimmt in die liebe Stadt hineinfuhr.

Die Stadt hatte für mich etwas einladend Freundliches; ich fühlte mich darin gleich wie zu Hause. Mein erster Gang war zu unserem berühmten Landschaftsmaler Dahl. Ich hatte keinen Empfehlungsbrief, aber als Däne war ich herzlich willkommen. Sowohl mir wie seinen anderen Landsleuten, die mit mir zur selben Zeit da waren, brachte er viele Opfer an Zeit und Mühe. Er war mit zwei Norwegern zu Tieck eingeladen; der große Dichter wollte an diesem Abend in einem Kreise von Freunden etwas vorlesen; da ich nun einen Empfehlungsbrief von Ingemann an ihn, ihm auch schon früher selbst einmal geschrieben hatte, so forderte Dahl mich auf, ihn zu begleiten, bat mich jedoch, jetzt nicht die Zeit bei ihm zu verlieren, sondern in die katholische Kirche zu gehen. Es war gerade an diesem Tage das Fronleichnamsfest; die meisten Zeremonien würden jetzt wohl freilich schon vorbei sein, meinte er, ich würde aber doch die Kastraten singen hören.

Ich fand bald den Weg über die Brühlsche Terrasse, die von Spaziergängern wimmelte; da gab es so viel Hübsches zu sehen, die große Augustusbrücke mit ihrem Menschengewühl, die Elbe mit ihren Schiffen und die grünen Weinberge an ihren Ufern! Aber ich hatte keine Zeit, ich mußte mich beeilen.

Ludwig Richter. Dresden vom Narrenhäschen an der Elbbrücke

Jetzt stand ich in der katholischen Kirche. Wie groß und hell! Das Musikchor brauste über meinem Kopf; auf allen Altären brannten Lichter, und rund umher in den Seitenkapellen und in den großen Gängen lagen Menschen auf den Knien. Die königliche Familie war in der Kirche, ich sah den König sehr eifrig beten; drei Priester in Gewändern von Goldstoff standen am Altar, und viele kleine Knaben, in roten Kleidern mit einem kleinen weißen Überwurf, schwangen Rauchfässer. Die Kastraten sangen; das waren keine männlichen, aber auch keine weiblichen Stimmen; es waren die weichsten Molltöne. Es lag etwas so Tiefes, Wehmütiges in diesem Gesang, als wäre es des Herzens ganze Sehnsucht, die sich in Tönen aussprach; sie machten einen ganz wunderbaren Eindruck auf mich, aber ich fühlte mich gar nicht froh dabei.

Am Hochaltar war beständige Bewegung; die Chorknaben kamen und gingen mit großen Lichtern, und die Priester verneigten sich jeden Augenblick und klingelten mit ihren silbernen Glocken.

Schweizer in gelben Livreen, mit großen, silberbeschlagenen Stöcken in der Hand, gingen in den Gängen herum, um auf Ruhe und Ordnung zu sehen und Achtung zu geben, daß die Böcke von den Schafen getrennt blieben. Menschen kamen und gingen, aber alles geschah sehr leise. Ich sah böhmische Frauen und Mädchen, die wahrscheinlich mit ihren Waren zu Markt gewesen waren; sie kamen mit ihren Körben oder Bündeln auf dem Rücken in die Kirche herein, knieten in den Gängen, beteten ihren Rosenkranz und entfernten sich dann wieder in größter Eile.

In den Kapellen knieten Männer und Frauen vor dem Bilde der Mutter Gottes, und in manchem Gesicht sah ich den Ausdruck wahrhafter Erhebung und Andacht. Die Sonne schien durch die Fenster und vermischte sich wunderbar mit dem Schein der vielen Lichter und dem wohlduftenden Rauch; es lag wirklich etwas darin, was auf dem Tonmeer der Musik den Weg zum Herzen fand.

Es war sieben Uhr abends, als ich mich mit Dahl und den zwei jungen Norwegern zu Tieck begab; ich sollte jetzt den Dichter sehen und kennenlernen, mit dem ich mich im Geiste so oft und viel beschäftigt hatte. Ich dachte nicht an seinen gestiefelten Kater und Prinz Zerbino, nicht an seine wunderschöne Elfenwelt und die herrlichen Novellen, nein, alles schmolz mir in dem Manne selbst zusammen, in Deutschlands Tieck, dem Meister einer ganzen Schule, der romantischen Poesie, dem Manne, der Goethe an Alter, Wert und Anerkennung bei seinen Landsleuten am nächsten steht.

Das Zimmer, in das wir geführt wurden, war nicht groß. Hier saßen um den Teetisch herum die Familie und einige Fremde, meistens Ausländer. Ich hatte Ingemanns "Ole der Namenlose" von dem Dichter selbst mitbekommen und meine eigenen "Phantasien und Skizzen" ebenfalls bei mir. Dahl stellte die beiden Norweger und mich als seine Landsleute vor, und der Dichter begrüßte uns freundlich und hieß uns willkommen; als ich ihm darauf die Bücher und Ingemanns Brief gab, nahm er mich freundlich bei der Hand und fragte, ob ich derjenige sei, der die "Fußreise" geschrieben habe? Als ich dies bejaht hatte, sagte er mir einige verbindliche Worte, hieß mich noch einmal willkommen in Deutschland und erkundigte sich nach Ingemann, den er sehr wertschätzte. Welch ein Ausdruck lag in dieses Mannes Blicken! Nie habe ich ein offneres Gesicht gesehen. Seine Stimme klang so gutmütig, und sah man ihm in die großen, klaren Augen, da fühlte man sich gewiß gedrungen, sich ihm anzuvertrauen. Es war nicht bloß der Dichter, den ich liebte, auch der Mann ward mir jetzt teuer! ja, so hatte ich ihn mir gedacht, als ich die Elfen las; -aber meine Träume sind schon so oft fehlgeschlagen, daß ich zuweilen wiederum dachte: in der Wirklichkeit ist er vielleicht ein steifer, vornehmer "Hofrat", und das würde mich sehr abgeschreckt haben. So war auch meine Vorstellung von Goethe, was meine Lust überwand, den großen Meister zu sehen, von dem ich glaubte, daß er sich am herrlichsten ausnähme, wenn man ihn, wie die Kirchtürme, aus der Entfernung sähe.

Die Gesellschaft bestand übrigens aus Menschen von den verschiedensten Gegenden des Erdballs; hier war einer aus Amerika, ein anderer, der die Reise um die Welt gemacht hatte, da waren Norweger, Deutsche und so weiter. Ich war der einzige aus Dänemark.

Tieck liebt Holberg sehr, den er in einer alten Übersetzung besitzt, aus der er zuweilen vorliest, und zwar ganz vortrefflich. Ich hörte ihn diesen Abend den zweiten Teil von Shakespeares Heinrich der Vierte vorlesen. Er pflegt, wenn er vorliest, die Personen nicht zu nennen, aber er spielt eine jede, so daß man gleich weiß, wer es ist. Namentlich die komischen Szenen gab er ganz meisterhaft, und es war ganz unmöglich, über seinen Falstaff oder seine Frau Hurtig nicht zu lachen.

Als wir am Abend aufbrachen, bat mich Tieck, so lange ich in Dresden bliebe, ihn öfter zu besuchen, und bereitete mich namentlich auf den Genuß vor, der mir in dem Besuch der Bildergalerie und der sächsischen Schweiz noch bevorstände; erstere war unglücklicherweise geschlossen, da die Bilder aufs neue geordnet wurden, aber Dahl hatte mir versprochen, mich am anderen Morgen hinaufzubringen, da doch die besten Sachen noch alle aufgehängt waren. Dies war der erste Tag in Dresden.

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... Jetzt begrüßte mich der letzte Morgen in Dresden. Ich mußte hinaus, um noch einmal die herrlichen Töne unter dem Kirchengewölbe brausen zu hören, um noch einmal die grünen Weinberge in Morgenbeleuchtung zu sehen.

Der Tag war so schön, die ganze Elbgegend lag in dem prächtigsten Sonnenlicht; es kam mir vor, als ob alles Sonntagskleider angetan hätte, um mir Lebewohl zu sagen; aber dadurch ward mir der Abschied auch um so schwerer. In der katholischen Kirche ward keine feierliche Messe gelesen, nur die Orgel spielte ihre einfachen Melodien; aber es war ja das Abschiedslied, vielleicht die letzten tiefen Töne, die ich hier in meinem ganzen Leben zu hören bekommen sollte. In einem der Beichtstühle sah ich einen alten Priester mit einem ehrwürdigen Gesicht, ein junges Mädchen kniete auf der andern Seite des Gitters und beichtete. Ich wünschte mir auch einen Freund, einen Vater, vor dem ich so recht die Gefühle ausschütten könnte, die beim Abschied von der lieben fremden Stadt, welche dem Herzen nicht länger fremd war, so mächtig in meinem Herzen brausten.

Dahl gab mir beim Abschied einige Zeichnungen zum Andenken, und eine Skizze in Ölfarbe, damit ich doch sagen könnte, daß ich etwas besäße, was er gemalt hätte; das ganze Stück war nicht größer, als daß ich es in der flachen Hand verbergen konnte. "Im nächsten Sommer sehe ich jedenfalls Dänemark und alle Freunde und Bekannte", sagte er und drückte mir die Hand zum Abschied. "Das ist auf Dänisch, und dieses" fügte er hinzu, indem er mich auf die Wange küßte, "ist auf Deutsch! Wir werden uns gewiß noch öfter in dieser Welt wiedersehen."

In meiner jetzigen Stimmung konnte ich Tieck nicht Lebewohl sagen. Eine Stunde später ging ich zu ihm. Er empfing mich in seinem Arbeitszimmer und sah mir so recht herzlich mit seinen großen, klugen Augen ins Gesicht; ich nahm mich zusammen, als ich die eben erst gedämpfte Wehmut doppelt stark zurückkehren fühlte. Er schien viel Güte für mich zu haben, lobte diejenigen von meinen Sachen, die er kannte, und schrieb mir, da ich kein Stammbuch bei mir führte, folgende Worte zum Andenken auf ein Blättchen Papier:

"Gedenken Sie auch in der Ferne meiner; wandeln Sie wohlgemut und heiter auf dem Wege der Poesie fort, den Sie so schön und mutig betreten haben. Verlieren Sie nicht den Mut, wenn nüchterne Kritik Sie ärgern will. Grüßen Sie den teuren Ingemann und alle Befreundeten und kehren Sie uns bald einmal frisch, gesund und reichbegabt von den Musen nach Deutschland zurück.

Dresden, 10. Juni 1831                    Ihr wahrer Freund Ludwig Tieck"

Ich sagte ihm Lebewohl. Kein Fremder war dabei, und daher durfte ich wohl weinen; er drückte mich an sein Herz, weissagte mir eine glückliche Zukunft als Dichter und - dachte gewiß, daß ich ein viel besserer Mensch sei, als ich wirklich bin. Sein Kuß glühte auf meiner Stirn, ich weiß nicht recht, was ich fühlte, aber ich liebte alle Menschen; möchte ich doch einmal als Dichter der Welt etwas schenken können, wodurch ich dem großen Dichter zeigen könnte, daß er sich in dem Fremden nicht getäuscht!

Es war sechs Uhr abends, als ich mit der Schnellpost aus Dresden fuhr; nun sah ich zum letztenmal die katholische Kirche und die Brühlsche Terrasse im Vorüberfahren. Von der Augustusbrücke suchte mein Auge noch einmal Dahls Haus über der Elbe, ich glaubte ihn am Fenster stehen zu sehen.

Bald lag auch die Neustadt hinter uns, Felder und Wiesen erstreckten sich zu beiden Seiten des Weges; wir waren neun im Wagen, und in diesem Kegelspiel saß ich, wie der König, in der Mitte; "Gott weiß", dachte ich, "wen von uns der Tod zuerst umwirft! Er wird uns doch nicht alle auf einmal treffen; aber vielleicht die Eckkegel."

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